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Geschichten auf den Versen
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Geschichten auf den Versen
In einem nebligen Reich leben Zwerge, Hüter uralter Geheimnisse, unter dem Bann finsterer Herrscher. Doch wer sind diese Zwerge wirklich? Was ist ihr Ursprung und ihre Verbindung zu den Mythen des Waldes? Auch Drachen, Riesen und alte Wesen aus Feuer und Wind sind gefangen. Was hat die Hexe, eine ambivalente Gestalt, mit dem Teufel zu tun? Ist sie gut oder böse, oder steht sie im Dienst der Magie? Wer sind die Herrscher, und welche Macht geht von ihnen aus? Ein innerer Ruf zieht die Zwerge in die Tiefen des dunklen Reichs, durch verzauberte Wälder und geheimnisvolle Sümpfe. Sie entdecken, dass sie mehr sind als nur Zwerge – sie sind Träger des uralten Funkens der Veränderung. Auf ihrer Reise begegnen sie mystischen Wesen und lösen den Bann, doch Freiheit erfordert Opfer. Der letzte Drache erhebt sich, sein Feuer verbrennt Illusionen. Hirschstrom ist mehr als eine Geschichte über Befreiung. Es ist ein surreales Märchen voller Fragen und alter Magie, eine Legende über das Erwachen aus Unterdrückung in eine magische Wahrheit.
(Fantasy)
René March, 05.01.2024
Aktualisiert: 29.05.2025
Das Verborgene Reich von Hirschstrom
Die Vorboten der Zwergenrebellion
Mitternachtsspiel der Illusionen
Das Tal der vergessenen Geschöpfe
Finlas und Tharon – Zwillinge der Wildnis
Zwischen Maskenball und Offenbarung
Tänze der Schatten und Lichter
Die Geheimnisse des Märchenbuchs
Zwischen Wäldern, Seen, Bergen und abgetragenen Felsen steht Luzias, der Hüter dieser Geschichte. Seine Worte tragen den Glanz vieler Epochen und das Gewicht vergangener Welten. Kein Berg oder Fels gleicht dem anderen; sie erscheinen lebendig und erinnern an Urzeittiere, die einst die Landschaften bevölkerten.
Luzias ist kein gewöhnlicher Erzähler – eher ein Wanderer zwischen den Zeilen, ein Suchender, der lauscht, wo andere längst vergessen haben. Neben ihm steht Drevil, ein Wesen seltener Art. Ein Drache, ja – aber keiner, der nur Feuer spuckt und Angst verbreitet. Drevil ist ein Gestaltwandler, geboren aus Magie, Erinnerung und Eitelkeit. Er trägt viele Gestalten, doch am liebsten zeigt er sich in seiner wahren: schuppig, frech und mit feurigen Augen, die erahnen lassen, dass in seinem Geist uraltes Wissen schlummert – und ein Hang zu übertriebenen Geschichten. Zusammen sind sie ein ungleiches Paar: der beobachtende Luzias und der freche Drache Drevil. Aber gerade in dieser Spannung liegt der Zauber ihrer Geschichten.
Und heute erzählen Luzias und Drevil von Bergen, aber sie haben keine Schaufelspaten oder Pinsel dabei, um etwas zu erforschen. Nein, es geht um Königreiche, Hexen, Teufel und Zwerge. Von vergessenen Zeiten – und von Hirschstrom.
Luzias spricht: „Heute möchte ich dir eine Geschichte über einen uralten Berg erzählen. Im Erdmittelalter, als die Welt noch warm und weit war, lag ein flaches Meer in tropischer Ruhe. Sanfte Wellen küssten den Sand und formten die Ablagerungen des Landes. Die bunten Gesteine – Sandstein, Schiefer und Kalkstein – sind Zeugen der Erdgeschichte. Fossilien erzählen von uralten Lebewesen wie Korallen und Muscheln, die in unseren Träumen unvergessen bleiben.“
Drevil schnauft. Er stellt sich auf, macht sich groß und breitet seine Flügel aus: „Und wo bleibe ich? Wer könnte mich schon vergessen? Ich bin eine Legende! Korallen und Muscheln – pah! Aber sag mal … wirklich uralte Lebewesen? Gibt es Fossilien von Drachen? Solltest du nicht mal nachsehen?“ Er hebt einige Felsen hoch, niest und sagt: „Vielleicht … liegen sie ja unter dem nächsten Stein.“
Luzias runzelt die Stirn, schaut dann aber auf den kies- und sandbedeckten Boden. Eine Käferkolonie kreuzt im Marschschritt den Weg. Plötzlich, wie von einem Einfall erfasst, blickt er zu Drevil: „Gute Idee. Wenn ich das nächste Mal über Fossilien stolpere, werde ich nicht nur nach Klippen, sondern auch nach Klauen suchen. Vielleicht finde ich ja eine deiner leisen Spuren.“
Drevil schaut kurz zu Luzias, springt in den See und badet. „Aber, wo bin ich stehen geblieben?“, fragt sich Luzias. Inspiriert von Drevil, der gerade aus dem See auftauchte, sich das Wasser von den Schuppen schüttelte und wieder unter den Felsen suchte, kommt Luzias eine Idee: „Ah – an sumpfigen Küsten wuchs ein üppiges Pflanzenleben. In den Tiefen der Erde lagerte Kohle, geprägt von Zeiten, die wir nicht mehr erleben werden. Dann begann die Zeit der Berge – groß und mächtig. Die Erosion hob das Meer und schuf markante Landschaften. Ein gewaltiges Gebirge erhob sich aus den Fluten, von der Erde in majestätischer Pracht geformt.“
Die Augen von Drevil funkeln. Er niest und beendet seine Suche unter den Felsen. Neugierig kehrt er zu Luzias zurück und nimmt eine nachdenkliche Pose ein: „Wieder majestätisch? Endlich sprichst du in einem angemessenen Ton!“ Er bufft Luzias an, der sich kaum noch auf den Beinen halten kann. „Aber mal ehrlich“, sagt Drevil, „die Erde mag die Berge geformt haben – aber ohne meinen Einfluss wären sie nur halb so spektakulär. Meine Kratzspuren sind doch überall!“ Er zeigt mit Zwinkern auf seine Krallen. Luzias rollt mit den Augen und lacht: „Natürlich, Drevil. Die Berge verdanken ihre Größe allein deiner … sagenhaften Präsenz.“
Drevil setzt sich zufrieden und streichelt sanft über seine Mähne. „Endlich siehst du es auch so!“
Luzias, wirkt hin- und hergerissen - zwischen Ernsthaftigkeit und Lachen, er spricht: „Mineralien glitzern im Sonnenlicht – darunter Zinnober, Fluorit und viele Erze. So erzählt die Erde von vergangenen Tagen, von warmen Meeren und alten Fragen. In jedem Stein steckt ein Stück Geschichte – eine leise Erinnerung, die nie vergeht.“
„Mineralien, Erze … Das Wichtigste sind doch die Schätze!“ Drevil lässt etwas Erde durch seine Hand rieseln wie eine Sanduhr. „All die Erze, die ihr so bewundert, liegen in meiner Schatzkammer. Und diese 'alten Fragen'? Pff – die Antworten liegen schon lange unter meinen Flügeln, aber niemand wagt es, mich zu fragen!“
Etwas hypnotisiert durch Drevils Spiel mit der Erde, ruft Luzias lachend: „Vielleicht traut sich einfach niemand, dich zu stören, wenn du so majestätisch schläfst.“
Luzias schüttelt seinen Kopf, um wieder klarer zu sehen. „Nun – aus den Tiefen der Erde erhob sich ein mächtiger Drache und nahm das Land in Besitz. Er lauerte in einer Höhle hoch oben auf den Gipfeln.“
„Höhle? Wo? Warum so schäbig?“, fragt Drevil und fliegt zu einer Felswand, um nach einem Eingang zu suchen. Luzias steht allein da, bis es im Gebüsch raschelt und Drevil wieder auftaucht: „Nenn es doch meine Festung. Das klingt schöner. Glaubst du wirklich, ich würde mich mit einer schäbigen Höhle zufriedengeben?“
Für eine Weile denkt Luzias nach. „Na gut, Festung … Seine Augen waren rot wie die Flammen der Zwergenschmiede und starrten auf das Land. Und die Zwerge, äh, ja, sie flohen vor seiner gewaltigen Macht, denn er galt als die Verkörperung des Teufels selbst.“
„Teufel, Teufel … Immer dieser Vergleich!“ Drevil ist von Rauch umgeben. „Ich fühle mich geschmeichelt – aber wie wäre es, Luzias, wenn du auch mal betonen würdest, wie elegant ich dabei ausgesehen habe?“ Er streicht den Ruß von seinen Schuppen und macht sich schick. „Immer nur ‚böse‘, nie ‚elegant‘. So erzählst du den Leuten nie die ganze Wahrheit über mich!“
„Na gut“, seufzt Luzias. „Der Drache – so furchterregend er auch war – regierte nicht nur mit Schrecken, sondern auch mit einem gewissen … na ja … Stil?! Die Zwerge wagten es nicht, ihm zu trotzen, denn er forderte alle Hoftiere und Schätze …“
„Schätze, ja! Und was für welche!“ Drevil lacht finster. „Ihre besten Stücke, wenn ich das mal so sagen darf.“ Er sammelt gerade Steine wie Pilze in ein Körbchen. „Und die Hoftiere? Na ja … das war eher ein Imbiss.“ Darauf leckt er sich über die Krallen, scheinbar hat er sich an einem Dornenbusch gestochen. „Aber warum wagten sie es nicht, sich zu widersetzen? Sie haben mir gerne gedient! Zumindest taten sie so …“ Drevil zeigt sich von seiner gutmütigsten Seite, breitet die Flügel aus, als wolle er die Welt willkommen heißen.
Bedacht lacht Luzias. Denn egal, wie freundlich Drevil sich gibt – sein finsterer Blick und seine Raffzähne – oder „Milchzähnchen“, wie er sie selbstbewusst nennt –, die aus seinem Maul ragen, wirken nicht gerade vertrauenserweckend. „Äh, ja … die Leute liebten es, dir ihre wertvollsten Schätze zu bringen. Und natürlich warst du großzügig genug, sie dafür am Leben zu lassen.“
Doch Drevil hat keine Zeit mehr. Er klopft Luzias kräftig auf die Schulter und sagt: „Du, Luzias…, ich äh…, ich habe noch ein paar Erledigungen zu machen … Ja, genau.“ Seine Augen huschen nervös hin und her. Luzias wirkt irretiert. Dann hebt Drevil ab. Luzias sieht Drevil und seinen Flugkünsten hinterher. Dann setzt er sich auf eine Bank und schaut ins Tal.
Die hinterlassenen Berichte von Hirschstrom erscheinen bis heute romantisch und märchenhaft, gleichwohl auch geheimnisvoll und rätselhaft. Es scheint, als trügen die Berge selbst ihre Geheimnisse in sich und verbergen diese, wie eine Mauer aus Schatten, die sich über die Dunkelheit legt. Ihre Geschichten tragen die Berge über Winde und Stürme hinaus. Die Sagen und Legenden, welche sich um die Berge und die Wandernden ranken, hinterlassen eine Fantasie, die bis zum heutigen Tage beflügelt.
Doch so wie eine Spinne ihr Netz webt und ihre Beute in feine Fäden aus List und Geduld umschnürt, so umschlang auch die Welt der Legenden sich selbst in ein dichtes Gewebe aus Geheimnissen. Wie eine Schlange, die sich lautlos durch das Unterholz schlängelt, kroch die Dunkelheit heran und verdrängte schließlich die Zeit der Sagen und Märchen. Denn das Gebirge, reich an wertvollen Schätzen wie Kristallen, Erzen und Mineralien, wurde mehrfach von verschiedenen Königreichen beherrscht und fiel schließlich unter die Kontrolle der Kriegsfürsten. Diese Ressourcen waren das goldene Herz des Reichtums und der Schlüssel zur Schöpfung der Werkzeuge.
Eine andere Sage erzählt, dass in den tiefen, verwunschenen Wäldern die Zwerge von Hirschstrom und die Trolle von Trollburg lebten, zwei stolze Völker, die sich seit Generationen rivalisierten. Das Reich der Trolle von Trollburg glich einem Imperium, während Hirschstrom einem gallischen Dorf entsprach.
Die Zwerge, bekannt für ihre kunstvollen Schmiedearbeiten und ihren unerschütterlichen Mut, gruben in den schimmernden Bergen nach goldenen Schätzen. Gleichzeitig schrieben die weisen Zwerge Geschichten über das Zusammenleben und das Wohlergehen ihrer Gemeinschaft. Die Trolle hingegen, Meister der Magie der Natur, durchstreiften die Wälder und hüteten geheime Zauberkräuter.
Eines Tages wurde ihre Heimat von einem Drachen bedroht, der es auf die Ressourcen beider Völker abgesehen hatte. In ihrer Not schlossen die Zwerge von Hirschstrom und die Trolle von Trollburg widerwillig einen Pakt und vereinten ihre Kräfte. Gemeinsam schmiedeten sie einen Plan, während die Zwerge den Drachen mit ihren Waffen ablenkten, nutzten die Trolle ihre Magie, um ihn zu fangen.
Nach einem erbitterten Kampf besiegten sie den Drachen und retteten ihr Land. Doch nach dem Sieg kehrten die alten Rivalitäten zurück. Mit jeder neuen Herausforderung wuchsen nicht nur die Konflikte, sondern auch eine unerwartete Freundschaft. So lernten Zwerge und Trolle, dass wahre Größe in der Zusammenarbeit liegt. Von da an wurde die Sage von Hirschstrom und Trollburg von Generation zu Generation weitergegeben.
Inmitten des Zwiespalts, wo jede Schlacht neue Wunden riss, erinnerten nur noch alte Geschichten an die Zeit, als ein Drache das Land in Bedrägnis versetzte. Sein feuriger Atem und seine unaufhaltsame Zerstörung schienen wie eine ferne Erinnerung, überdeckt von der harten Realität des Krieges. Doch selbst in dieser finsteren Zeit funkelte ein Hoffnungsschimmer wie ein heller Stern am Horizont. Die Legenden erzählten von tapferen Helden, die das Licht in die Dunkelheit brachten, und von einem Aufstand, der das Schicksal des Landes veränderte. Diese Geschichten verbanden die einst gefürchteten Drachen und die tapferen Zwerge zu einem Epos von Mut und Entschlossenheit, das die Geschichte von Hirschstrom und den Kampf für Frieden und Gerechtigkeit neu schreiben sollte.
In den geheimnisvollen Tiefen des uralten Waldes von Hirschstrom, wo die Zeit in den mächtigen Stämmen der Yggarionals, den Hütern der Ewigkeit, gefangen scheint, ranken sich Legenden um die unerschütterliche Macht dieser Bäume. Diese gigantischen Wächter, hoch und majestätisch wie die Säulen des Himmels, tragen in ihren Rinden uralte Augen, die alles sehen und bewahren.
Manche sagen, sie verbinden die neun Welten des Kosmos und hüten die Geheimnisse der Vergangenheit, stumme Zeugen der Kämpfe und Geschichten, die das Land einst prägten. Einer weiteren Legende nach wachten mächtige Bären vor den Toren der Wälder, die nur für Wesen zugänglich waren, die sich mit den natürlichen und magischen Kräften des Waldes verbinden konnten, aber sie waren nicht nur Wächter, sondern auch Beschützer des Waldes für Wesen, die ihn betraten.
In diesen Wäldern lebte einst ein unermüdliches Zwergenvolk, dessen Leben von einer dunklen Macht überschattet wurde. Ein finsterer Magier, der über ein Reich der Unterdrückung herrschte, war wie ein Schatten, der die Sonne verdunkelte und die Zwerge in Fesseln legte. Seine Macht war allgegenwärtig, seine Augen überall, selbst die Bäume schienen durch ihre Rinde zu blicken und seine Herrschaft widerzuspiegeln.
Die Zwerge sind ein Teil des Waldes. Niemand hat sie je gesehen; manche behaupten das Gegenteil. Doch wer denkt, es zu wissen, erwacht und fragt sich, ob es ein Traum oder die Wirklichkeit war. Viele Aufzeichnungen gingen verloren, andere wurden verzaubert. Nun, schon bei der Frage der Größe scheiden sich die Geister. Manche meinen, die Zwerge wären so groß wie Mäuse, andere behaupten, sie seien so groß wie Waschbären, und wieder andere sind sich sicher, sie seien so groß wie ein Bär, der sich aufstellt, um die Gegend zu überblicken. Nach Adam Riese wird es irgendwo in der Mitte liegen.
Abends am Lagerfeuer werden die meisten Geschichten erzählt. Demnach sind die Zwerge kleine Wesen – robust gebaut, mit einer Haut, die an Baumrinde erinnert und durchzogen ist von feinen, moosartigen Härchen. Ihre Hände tragen vier kräftige Finger, die ideal zum Graben, Schnitzen und Klettern sind. Manche Zwerge tragen Umhänge aus gewebtem Farn oder Fell, geschmückt mit kleinen Erz- und Kristallsteinen. Das ist ein Zeichen ihrer Verbundenheit zur Erde. Ihre Nasen sind rundlich, wie die Knollen einer Kartoffel. Ihre Bärte sind verflochten wie Tannenzapfen. Jeder Zwerg trägt eine Zipfelmütze – in Erdfarben, Moosgrün oder mit Mustern aus Pilzrot und Felsgrau. Die Zwerge sollen in riesigen Mammutbäumen wohnen, die kleine Fenster haben. Die Pilze an den Bäumen sind die Treppen, die zu einzelnen Stockwerken führen. Nachts leuchten die kleinen Fenster, das Licht flackert im Wind, als würden dort Glühwürmchen verweilen. Und während man dort entlangschreitet, erklingen sanfte Stimmen, als würden sie die Zwerge unterhalten. Vielleicht ist es auch nur ein Trugbild, geboren aus dem Flüstern der Blätter im Wind, dem geheimnisvollen Knarzen der Bäume und dem Zirpen der Grillen. Denn auch die Eule sitzt auf dem Baum; ihr Rufen klingt wie ein Lachen.
In längst vergangenen Zeiten, als die Welt noch voller Mythen und magischer Wesen war, lebten die Zwerge auf großen Waldlichtungen und genossen das ruhige Leben, das ihnen bestimmt war. Doch den Zwergen standen dunkle Tage bevor. Dennoch blühte in den dunkelsten Zeiten die Hoffnung. Mutig entschlossen, beschlossen die Zwerge, sich gegen ihre Herrschaft aufzulehnen. Es war ein Aufstand, der die dunkle Nacht der Unterdrückung durchbrach und den Weg zu Freiheit und Gerechtigkeit ebnete.
Im tiefen Wald, wo die Bäume das Sonnenlicht dämpften, sammelten die Zwerge gerade Brennholz, als ein Wanderer aus dem Dickicht erschien. Seine Statur war schlank. Er war etwas größer als die Zwerge, aber kleiner als ein Bär. Sein Gesicht glich dem einer Kröte. Er war umhüllt in einen Umhang, der die Farben des Waldes trug: grün mit braunen und schwarzen Zacken, so unscheinbar. Er hatte magische Tiere dabei; es waren Mischwesen aus Waschbären und Luchsen. Niemand wusste, welche Absichten sie hatten: Waren sie gut, böse oder verspielt? Die Vesperis, so wurden sie genannt, waren Zwillingswächter über Gut und Böse. Sie bargen Licht und Dunkelheit zugleich. Die Zwerge erschraken, doch da der Wanderer ein ruhiges und sanftes Gemüt hatte und sich den Zwergen mit seinen Wesen vorstellte, wogen sich die Zwerge in Sicherheit.
Der Wanderer kannte das Leben der Zwerge und erzählte ihnen eine düstere Geschichte. Er berichtete von einem Magier aus einem fernen Land, der einst Trolle dazu brachte, eine Gruppe von nicht mehr als zehn einheimischen Wichteln aus ihrem Dorf zu verschleppen. Es heißt, sie hätten das Sonnenlicht nie wieder erblickt. Nur einer entkam und konnte die Geschichte überliefern. Die Zwerge erkannten das Unheil, das in der Geschichte verborgen lag, und doch sprachen sie von Klagen und der Hoffnung auf Zauberei. Da lenkte der Wanderer ein und sprach:
Magie, so alt, so tief, so weit,
birgt in sich Dunkelheit und Licht zugleich.
In falscher Hand wird sie zum Bann,
man weiß nie, was sie wirklich kann.
Tief von der Erzählung ergriffen, luden die Zwerge den Wanderer in ihre Hütte ein. Es war gespenstisch still in der Zwergenstube. Das Holz im Kamin knisterte und es duftete nach frischem Waldmeistertee. Das Ticken und Läuten des Gongs einer Standuhr war zu hören. Die Zwerge waren ihrer Zeit weit voraus und Tüftler, die sich von Klöstern und Kirchen inspirieren ließen. Armbanduhren, wie du sie heute kennst, gab es damals noch nicht. Nachtwächter, Sonne und Mond dienten zur Orientierung.
Ein Zwerg kam mit dem Tee und sprach: „Ich habe uns Tee gekocht.“ Die Zwerge setzten sich. Für eine Weile setzte sich auch der Wanderer, doch immer wieder ging er zum Fenster und schaute hinaus. Der Wanderer wirkte unruhig, als ob er gleich aufzubrechen gedächte. Am Himmel kreiste ein Bussard, und auch die Zwerge hörten das Krächzen von Krähen am Boden. Für einen Augenblick dachten alle, der Bussard und die Krähen seien auf der Jagd und unterhielten sich miteinander.
Ein anderer Zwerg begann von der Prophezeiung einer Hexe zu erzählen, die ihnen Hoffnung auf baldige Freiheit gab, obwohl sie noch in Ketten lagen.
„Ach, er mit seiner Hexe. Niemand hat sie je gesehen; man sagt, sie hätte eine große Nase, strohiges Haar und sähe so aus wie der Teufel."
„Er dreht am Rad, hoffentlich verliert er nicht den Faden“, erwiderte ein weiterer Zwerg. Und tatsächlich, der eine Zwerg saß an einem Spinnrad – einem alten Holzgerät. Auf den Spulen war Seidenwolle aufgewickelt. Die Seidenwolle diente für die Mäntel der Zwerge.
„Die Hexe ist umhüllt, man kann gar nichts sehen. Doch ich“ – der Zwerg stellte sich mit stolzer Brust auf – „habe sie gesehen, so jung und wunderschön wie eine zarte Fee, mit einem Zauberhut, und in der Hand hat sie einen Stock; damit verzaubert sie den Wald.“
Die Zwerge zogen die Augenbrauen hoch, schüttelten die Köpfe und sagten zum Wanderer: „Er liest zu viele Bücher, von denen niemand weiß, woher sie überhaupt kommen.“
Der Wanderer, der zwischendurch aufstand und sich umsah, lächelte nur.
„Lasst mich Euch eine Geschichte aus Hirschstrom erzählen, denn Ihr seid mitten hineingeboren in diese Landschaft. Valerian, der Herrscher, regiert schon seit Jahrzehnten. Er ist für seine unnachgiebige Hand bekannt. Er ist ein dunkler Herrscher. Einst war er jung und liebte den Wettkampf, und noch heute regiert er das Land nach seinem Willen. An seiner Seite lebt seine Gemahlin Umbra, die ebenfalls mit unerbittlicher Härte herrscht. Doch Valerian ist auch ängstlich und unsicher, und je mehr er versucht, seine Macht zu demonstrieren, desto deutlicher wird seine Schwäche sichtbar.“
,,Wie wird eigentlich bei uns gewählt?", fragte ein Zwerg. ,,Ich hörte von einer Burg, ich sah sie auch, nur komme ich dort nicht herein. Alles ist verwachsen."
Der Wanderer schaute ernst. Manchmal bekam er einen Schluckauf, der wie Geräusche einer Kröte klang. Vielleicht war es auch nur ein leiser Husten oder sanftes Räuspern. Seine Augen blinzelten, und mit seiner Zunge befeuchtete er sie. Nachdenklich senkte er seinen Kopf, sah zum Boden und fuhr mit seinen Krallen durch den Sand – fast meditativ; sein Kratzen war unüberhörbar. Dann sprach er:
„Hier geschieht nichts nach Regeln, schon gar nicht bei der Wahl. Die Regeln sind die Regeln des Waldes und des Wetters. Sie stehen, wie die Bäume stehen, und fallen, wie Bäume fallen. Die Regeln werden vom Blütenstaub durch die Lüfte getragen, angetrieben vom Wind.“
,,An sich versammeln sich Zwerge in einer großen Halle, wo die Entscheidung fällt. Es ist eine Ruine, eine alte Burg, doch sie ist längst mit dem Wald verwachsen. In der Burghalle gibt es kein lautes Rufen, kein Heben der Hände. Nein, wenn Zwerge wählen, geschieht das durch das Wiegen der Worte. Denn hier steht sie, die sagenumwobene Goldwaage. Die Waage, ein uraltes Gerät, aus dem Fels geschlagen, mit zwei Schalen, ist ausbalanciert. Jeder, der sich zur Wahl stellt, spricht seine Worte – Versprechen, Pläne, Wahrheiten. Einige Zwerge schreiben alles auf. Die einzelnen Schriftrollen werden dann nach und nach auf die Schale gelegt. Und so geht es: Ist die Waage am Ende schief, sodass die Schriftrolle unten ist, bedeutet das, dass die Worte keinen Halt haben, es einfach leere Worte sind, schwer vorgetragen. War die Schale mit der Schriftrolle oben, hieß es, dass die Worte stark waren, aber die Taten nicht umgesetzt werden konnten. Doch wenn die Waage im Gleichgewicht blieb, galt das Gesagte als wahrhaftig, durchdacht und möglich."
Zwischendurch wurden die Vesperis munter. Sie schmiegten sich an die Zwerge an; es sah so aus, als würden sie Trost spenden, und wiederum wirkte es so, als wollten sie die Zwerge fressen. Der Wanderer beobachtete amüsiert das Geschehen, etwas finster, doch zugleich herzlich und belustigt. Dann fuhr er fort:
,,Zu jener Zeit gab es Unruhe unter den Zwergen. Die Stämme der Wipfel, die Clans der Wurzeln, die Hüter der Felsen – alle stritten sich. Jeder hatte andere Vorstellungen. Die Gespräche zogen sich in die Länge; Sonne und Mond gingen auf und ab, keine Entscheidung hielt. Dann traten Umbra und Valerian hervor. Ihre Worte waren klar, durchdacht, wie gemeißelt. Sie sprachen nicht viel, aber das, was sie sagten, wog schwer wie Gold. Sie hielten keine langen Reden, sondern stellten Fragen, bei denen jeder Zwerg sich selbst hinterfragte. Sie stritten nicht, sondern verbanden. Sie erschienen ruhig und bedacht – als hätten sie einen Plan, der über alles hinausging. Die Schriftrolle auf der Waage stand im Einklang; alle waren sich sicher: Wenn jemand die Richtung kannte, dann nur diese beiden. Das war die Stunde der Geburt ihrer Herrschaft."
,,Doch nach der Wahl begannen Umbra und Valerian, sich zu verändern. Zunächst langsam, fast unmerklich. Ihre Worte wurden seltener, die Blicke schwerer. Sie zogen in die Berge, vielmehr in die Felsen. In den Spalten sind Höhlen. Dort ist es kalt und feucht. Winde pfeifen durch die Ritzen, doch das Feuer geht nie aus; es hält sie warm. Die Hallen ihres Reiches sind geschmückt mit den Schätzen des Gesteins: Goldene Adern durchziehen die Räume aus Licht. Kristalle ragen wie gefrorene Flammen aus dem Boden, riesige Erzblöcke liegen da."
,,Valerian ist nach wie vor mächtig und wortkarg. Seine Augen glühen bernsteinfarben, verborgen unter einer schwarzen Kapuze. Sein Schweigen spricht Bände. Auch Umbra zieht sich zurück. Sie ist geheimnisvoll wie ein Schatten am Rand des Feuers. Ihre Stimme ist stark, doch auch sanft, wie der Tropfen, der auf einen heißen Stein fällt und dann verpufft. Ihr Haar färbt sie mit der Kohle, die sie in der Höhle findet. Ihr Kamm ist aus Bergkristall. Dann sitzt sie da und kämmt ihr Haar, während sie leise zu sich spricht: 'Gepflegt werden meine Haare, überall die vielen Jahre. Doch mein Kamm, er klemmt, alles verklemmt und verkämmt, das hemmt mich permanent.' Das tut sie stundenlang, denn einen Spiegel hat sie nicht."
,,Die Luft im Reich ist stickig, erfüllt von einem Flüstern, als ob nur der Berg selbst zuhören und Befehle geben würde, indem er Gesteinsbrocken ins Tal stürzen lässt. Umbra und Valerian mögen nicht mehr dieselben sein wie einst, aber sie wissen, wie sie im Untergrund regieren können. Wahrlich, arm sind sie nicht; nur lassen sie sich selten sehen. Während Valerian träumt, denkt Umbra, und während Umbra schläft, spricht Valerian. Gemeinsam halten sie in der Unterwelt Ordnung und Balance. Kein Pfad führt zu ihren Felsen. Der Weg zu ihnen ist wie ein Labyrinth, verborgen von Sträuchern mit unzähligen Dornen, die so stark sind wie Hörner - unüberwindbar und undurchdringbar. Entscheidungen fallen, ohne die Stimmen der Zwerge. Regeln kommen und gehen, so wie das Wetter. Die Zwerge folgen weiter, vielleicht aus Ehrfurcht oder Angst."
Noch einmal schaute der Wanderer die Zwerge an. Sie ahnten, was jetzt passieren würde. Die Vesperis und er brachen auf, doch ohne Worte. Sie lösten sich auf wie ein verzerrter, blasser Schimmer, wie der graue Nebel am Himmel, der die Wolken schließt, durch den nur noch das Abendrot dringt. Sie waren eine unerklärliche Erscheinung, fast wie Wesen aus einer unbekannten Zeit. Ein lebendes Ich zum Anfassen, das es doch nicht gibt. Möglicherweise waren sie Gesandte. Vielleicht kamen sie im Auftrag der Hexe. Möglicherweise war es der Teufel mit Gefolge. Doch was wäre ein Geheimnis, wenn es offenbar würde?
Die Zwerge waren gerade dabei, ihr Nachtquartier herzurichten, als sie unerwartet eine Stimme hörten:
„Ihr habt mich gerufen. Hier bin ich.“
„Das kann nicht sein,“ sprachen die Zwerge. „Wir kennen Euch nicht.“
„Verzeiht meinen unerwarteten Besuch. Ich bin Morwyn,“ sagte die Stimme leise und sanft. „Ich bin ein Seelenwächter. Ich wache über die Toten und die Lebenden. Ihr seid wach…“
Ein Zwerg trat in die Stube. Er trug einen Schlafrock und hielt eine brennende Kerze auf einem Kerzenhalter. Mit ernstem Blick unterbrach er Morwyn: „Das ist richtig, wir wollten gerade zu Bett gehen, als Ihr kamt.“
„Gewiss“ erwiderte Morwyn sanft. „Aber ich spreche nicht vom zu Bettgehen. Ihr seid wach, aber nicht erwacht.“
Die Zwerge schauten Morwyn fragend an. „Was meint Ihr, Herr?“
Morwyn lächelte leise, während im Hintergrund ein Waldkauz rief. „Nun, Ihr habt mit dem Wanderer gesprochen und über die Wichtelgruppe geredet.“
Ein Zwerg begann zu zittern und stammelte erschrocken: „M-man hat uns nur die Geschichte erzählt, dass die Wichtel verschwunden sind und nie wieder gesehen wurden. A-aber wie es genau war, sagte man uns nicht.“
Mit einem Mal verwandelte sich Morwyn in einen Wächter und Krieger. Mit nachdenklicher und ruhiger Stimme antwortete er: „Nun, vielleicht sind es nicht die Geschichten, sondern ein anderer Grund, weshalb ich gekommen bin. Ich meine, Ihr habt Träume, aber es bleiben Illusionen. Zwar glaubt Ihr an Wunder, aber unternehmt nichts dafür.“
,,Die Wichtel, die einst von Trollen entführt und nie wieder gesehen wurden, haben etwas mit eurer Geschichte zu tun. Sie waren im Krieg zwischen zwei Magiern und standen unter einem Bann; sie wussten nicht, was gut und was böse war, da sie noch jung waren. Sie kämpften für das Böse, ohne zu erkennen, dass sie sich dabei selbst zerstörten. Erst mit der Zeit begriffen sie, dass sie Gefangene in ihrem Leben waren. Von da an beschützten sie nur noch ihre Heimat und Familie. Doch ihr Glaube und ihr Glück sollten sich wenden. Denn der eine Magier, der aus einem fernen Land kam, hatte die Kontrolle über die Gebiete des Wichtellands. Er traute den jungen Wichteln nicht und bezichtigte sie des Verrats. Aus Misstrauen, Schwäche oder Machtmissbrauch sandte er Trolle aus, um die Wichtel zu verschleppen.“
„Aber die Wichtel erzählten doch, dass die gefangenen Wichtel nicht mehr unter ihnen weilen“, sagte ein anderer Zwerg.
,,Es ist wahr, dass jene Wichtel nicht mehr unter ihnen weilten“, sprach Morwyn. „Ohne Gnade wurden sie in ein Verlies gesperrt und starben. Nur ein Wichtel konnte fliehen. Der geflohene Wichtel schwor, Hilfe zu holen und seinen Gefährten Ehre zu erweisen. Doch die Hilfe blieb verwehrt. Es heißt, es verlief alles ohne Zeitverzug. Aus Reue über das Geschehene erinnern heute der fremde Magier und ein Gedenkstein an die Wichtel“.
,,Was hat das mit uns zu tun?", fragten die Zwerge, die mittlerweile müde waren. Morwyn, der immer noch ruhig und sanft auf die Zwerge einwirkte, sprach: „Die Geschichte der Wichtel und des Wanderers zeigen die Konflikte, die die Zeit brachte und immer noch mit sich bringt. Auch Ihr seid jung und steht unter der Herrschaft von Valerian und Umbra. Ihr lebt ein Leben, das Euch vorgegeben ist. Ihr werdet bewacht und für deren Zwecke benutzt. Wahrlich, heute diene ich Euch als Mahnung, damit Ihr aufwacht und Euch mit Geschick erhebt.“
Und damit verschwand Morwyn ohne ein weiteres Wort in der Dunkelheit. Die Zwerge dachten noch lange über die Erscheinung des Wanderers und Morwyns Worte nach, bis sie schließlich einschliefen.
Einmal im Jahr, so will’s der Brauch,
zieht man die Zwerge aus dem Strauch.
Im Gepäck etwas Gepäck,
doch auch Besteck,
das dient dem Zweck.
Die Riesen thronen hoch und weit,
seit Anbeginn der Ewigkeit.
Sie lachen laut, sind sorglos, froh,
von oben schallt es: „Los, hallo!
Nun wird’s rund und richtig bunt.
Sie lachen, grölen, wild und frei,
werfen Murmeln, ohne Sinn dabei.
Für sie ein Spiel, ein Riesenspaß –
für Zwerge ist es Übermaß.
Denn statt murmeln,
heißt es kurbeln.
Aus der Ferne hört man lautes Grollen.
Aus dem Stollen fliegen Staub und Pollen,
schon rollen laut die ersten Rollen.
Die Brocken stürzen talwärts nieder,
den Zwergen stockt der Atem wieder.
Hirschstrom ist umgeben von Wald und Felsen. An vielen Stellen türmen sich die Steine auf oder stehen wie versteinerte Zeugen da – stumm und alt. Manche sagen, es seien Boten aus einer anderen Zeit. Andere behaupten, unbekannte Mächte hätten die Felsen aufgebaut und zu Riesen zusammengesetzt. Und wieder andere meinen, die Riesen, die einst hier lebten, hätten mit Steinen gespielt und beim Sammeln oder Forttragen einige verloren.
Zwischen den Felsen wachsen Tannen – viele stehen, einige liegen und andere fehlen. Die Riesen sollen die Tannen als Allzweckwerkzeug genutzt haben: zum Kämpfen, zum Bauen, ja sogar zum täglichen Zähneputzen. Wenn du genug Kraft hast, kannst du dir mal einen der Felsen vornehmen und ihn von allen Seiten betrachten. Doch egal, wie man die Steine dreht oder wie viele Geschichten man darüber erzählt – wir wollen uns lieber auf die Fakten konzentrieren. Die Zwerge jedenfalls sind gerade zu Bett gegangen. Sie schlafen, träumen und schmieden neue Pläne. Also wollen wir sie nicht stören. Es bleibt genug Zeit, um eine andere Geschichte zu erzählen.
Nicht weit von den Reichen der Zwerge entfernt liegt Rieserolltal. Wo andernorts Wälder rauschen, klaffen hier gewaltige Gruben und tiefe Steinbrüche in der Erde. Aus der Ferne sieht alles harmlos aus – wie ein großer Rodelberg oder ein überdimensionaler Sandkasten, übersät mit Sandburgen, Förmchen und kleinen Schaufeln. Doch wenn du dich näher wagst, merkst du schnell: Das hier ist kein Ort zum Spielen!
In Rieserolltal lebten sie - Riesen. Vielleicht stellst du dir gerade Gestalten vor, wie du sie aus anderen Geschichten kennst: menschenähnlich, mit einem Mantel, langen Bärten oder Haaren. Aber so war das nicht. Diese Riesen waren anders. Viel älter. Viel fremder. Sie waren Urgetüme, Monster, Wesen aus einer anderen Zeit. Ihre Körper wirkten, als seien sie mit Fell und Stein verwachsen, ihre Köpfe trugen Hörner. Aus ihren Mäulern ragten spitze Zähne. Wie groß die Riesen wirklich waren, wusste niemand. Kein Wesen hatte es je gewagt, sie zu vermessen. Ein Zollstock hätte bei ihnen ohnehin nur wie ein Streichholz gewirkt.
Hier arbeiteten die Riesen Tag und Nacht. Sie bauten Sand, Kalk und andere Mineralien ab. Als Zugtiere dienten ihnen riesige Pferde – zottelig, mit langem, rotbraunem Fell. Ihre Köpfe glichen denen von Stieren, doch ihre Hörner sahen aus wie riesige, gabelförmige Geweihe. Damit bohrten sie die Wände an und lösten Sand, Kalk und andere Mineralien. Auf ihren Rücken befanden sich kleine Hörner, die wie Sättel aussahen – ein Überbleibsel aus vergangener Zeit, als kleine und flauschige Trollwesen die Riesenpferde steuerten. Von den Trollwesen ist nichts bekannt. Eines Tages sollen sie einfach verschwunden sein, so erzählt man sich.
Die Pferde waren fast so groß wie die Riesen selbst. Wenn die Riesenpferde mit ihren Fuhrwagen vorbeitrabten, wirbelte Staub wie bei einem Sandsturm durch die Luft. Die Räder der Fuhrwerke waren fast so groß wie Berge und der Klang der Pferdehufe glich Donner, der sich durch das ganze Land zog.
Zwischen den Riesen und den Pferden bestand eine seltsame Verbindung, als wären sie aus demselben Stoff gemacht. Trotz ihrer gewaltigen Statur hatten beide eine erstaunlich zarte Seite. Wenn ein Riese einen Strauch aus der Erde riss, daran schnupperte und schließlich niesen musste, lösten sich riesige Brocken aus den Steinwänden. Und auch die Pferde waren nicht untätig: Wenn sie an den Sträuchern knabberten und genüsslich kauten, begannen sich die Steine aus den Sandwänden zu lösen und ebneten so den Weg. Vielleicht diente all das aber auch nur der Arbeitserleichterung.
Der Abbau der Rohstoffe diente dem Bau von Städten – gewaltige Siedlungen, die aus dem Boden wuchsen und genauso schnell wieder zerfielen. Der Begriff „blühende Landschaften“ bekam hier eine ganz eigene Bedeutung, durchzogen von trockenem, fast steinigem Humor.
Und auch wenn die Zwerge gerade schlafen, übernahmen sie dennoch eine Aufgabe. Denn die Mächtigen Valerian und Umbra hatten ein jährliches Spielfest in Rieserolltal befohlen – zur Ehre des Gleichgewichts zwischen Riesen und Zwergen. Dafür wurde eine eigenwillige Sportart erfunden: das Kalk-Kegeln. Hatte man den Zwergen immer Stärke und Pflicht in der Gemeinschaft gepriesen, so waren diese Spielregeln genau das Gegenteil davon. Wie soll man es beschreiben? Morgens gehen die Zwerge gemütlich durch den Wald und abends stehen sie vor einem Schilderwald.
Die Zwerge rollten riesige Kalkrollen – schwer wie ganze Häuser – mühsam über die Bahn. Ihr Ziel: die mächtigen Burgen der Riesen zum Einsturz zu bringen, Nachbildungen aus Kalk, wie Türme. Die Riesen hingegen nahmen Murmeln, die sie auf die Miniaturhäuser der Zwerge schleuderten. Ein seltsames Spiel, das auf spielerische Weise mit den Größenunterschieden zwischen beiden Völkern spielt. An diesen Spieltagen standen Valerian und Umbra oben auf der Aussichtskanzel. „Wir wollen gerecht sein. Auch die Zwerge sollen spielen dürfen! So lasst uns das Spiel beginnen!“, riefen sie.
Ein Häuschen kracht, wie Karten fliegen,
nur die Sonne lacht mit den Siegen.
Da ruft ein Zwerg: „Ich schaff das nicht!“
Zwei Zwerge helfen - voller Pflicht,
- so war die Sicht.
,,Sicher nicht", hieß es dann schlicht.
„Aus dem Licht, du kleiner Wicht,
versperrst die Sicht, so nicht!"
Wohl kennt ein Riese weisen Rat
und schreitet gleich zur guten Tat.
,,Hierum, darum, drumherum!
Sorum, dortrum, ringsherum!"
,,Worum?"
,,Warum darum und nicht sorum?
Wirklich hierum?"
,,Darum?!"
,,Obenrum, untenrum,
linksherum und rechtsherum?"
,,Rundherum!"
Der Riese nimmt den Zwerg zur Brust,
spricht mit Nachdruck, fast mit Frust.
„Du hast Mut, und du bist gut,
in deinem Herzen brennt die Glut.
Deine Leistung macht dich stark,
du kämpfst allein für deine Mark.“
Valerian und Umbra tunkten ihr Brot in das Kalkwasser und sprachen: „Was für ein schönes Spiel!"
,,Und seht, wie brav sie schieben – meine Zwerge“, sagte Umbra. „Fürwahr, ich bin doch eine gute Herrin“, fügte sie hinzu und wischte sich dabei eine Träne aus dem Gesicht.
„Ha, es sind aber auch meine Zwerge, denn ich bin der Herrscher!“, erwiderte Valerian.
Doch Umbra lächelte fröhlich in die Runde und entgegnete: „Ihr irrt Euch.“
Natürlich waren Umbra und Valerian nicht untätig. Sie spielten das Spiel im Miniaturformat nach. Ein Holzbrett mit einem Spielfeld und Figuren, darunter Riesen und Zwerge aus Stein. Eine Murmel musste mit den Fingern angeschnippst werden, damit eine Figur umfiel. Während Umbra auf das große Spielfeld schaute, nahm Valerian eine Murmel und schob sie ruhig auf die gegenüberliegende Seite, sodass die Figur gezielt umkippte.
„Wohlan, es wirkt erstaunlich ausgeglichen“, sagte Valerian schließlich, während er mit feierlicher Geste das Geschehen präsentierte.
Die Riesen lachten: „Hahaha, Hohohohohoo, Heheheheeh.“
Groß war das Spiel – ja, groß wie die Riesen selbst. Und klein waren die Zwerge. Oben auf den Tribünen grollte das Lachen der Riesen wie ein Sturm. Es donnerte wie ein Bergsturz. Die Riesen klopften sich vor Freude auf die Bäuche. Sie schlugen sich auf die Schenkel, dass die Wolken auseinanderflogen. Ihre Freudentränen, die sie vergossen, rieselten sanft auf den Boden. Unten auf dem Spielfeld fiel der Schnee. Er türmte sich wie weiße Berge.
Während oben das „Hohohoho“ wie ein Gewitter über die Gipfel rollte, kämpften sich die Zwerge durch Schneewehen, die ihnen bis zu den Schultern reichten. Manche standen im Schnee eingeschneit – nur ihre Mützen wackelten noch im Wind. Manche Alten sagen, man könne noch heute, an jenen Tagen des Lachens, hören, wie das Herz eines Riesen pochte: lang, tief und voller Freude. Doch für die Zwerge blieb nur das Echo – und der Schnee. Die Burgen der Riesen hielten hielten stand. Weiterhin thronten sie stolz empor in den Himmel, bis in die Wolken hinein.
„Wir rollen Kalk, doch schleppen Stein,
wir bauen Häuser – doch für wen allein?“
Ein Zwerg mit grauem Bart, er sprach:
„Frag nicht, mein Bruder, frag nicht nach.
Wer unten lebt, der trägt und schuftet,
wer oben sitzt, der lacht – und duftet.“
In den Spielpausen kamen Riesenschweine angerannt. Sie waren wuschelig, rosafarben und hatten lila Streifen. Ihre Hauer waren so groß wie die der Mammuts und zu Gabelschaufeln gebogen. Schaufelgabeln ... Schaufel mit Gabel? War es eine Laune der Natur? Wahrlich, eine ausgeklügelte Konstruktion und Kombination! Damit konnten sie sowohl schaufeln und graben als auch spießen, harken und sieben. Die Aufgabe der Riesenschweine war es, den Boden zu ebnen. Sie waren wie Platzwarte oder Kehrmaschinen.
Die Riesenschweine senkten die Köpfe und gruben dabei ihre Hauer in den Kalksandboden. Mit Eiltempo liefen sie von einer Strecke zur nächsten. Es sah so aus, als hätten sie aus der eigentlichen Aufgabe ein eigenes Spiel kreiert: den Wettlauf. Während des Rennens grunzten, brummten und quiekten sie, als würden sie sich unterhalten oder zum Publikum sprechen. Der Wind sog den Sand auf, der sich zu einem Wirbel formte. Er fegte über das Publikum hinweg, bis schließlich der weiße Kalksand auf die Zwerge niederprasselte. So standen die Zwerge da, als wären sie in einem Sand- oder Schneesturm geraten.
So eigensinnig die Riesenschweine auch waren, insgeheim vermittelten sie eine Botschaft, ohne jedoch jemanden direkt anzusprechen. Denn Umbra und Valerian waren überall und nirgends.
Währenddessen unterhielten sich die Riesenpferde. Sie standen etwas abseits vom Spielfeldrand – auf einer Wiese, unter einem Baum. Zumindest sah er so aus wie ein Baum. In Wirklichkeit war er kahl, und es wirkte, als hätte er noch einmal eine Schonzeit bekommen, die längst vorbei war. Unter den Pferden braute sich etwas zusammen, aber die Riesen waren mit ihren Spielen beschäftigt, und so schmuggelten sie ein Pferd in die Menge, das eine Aufgabe zu erfüllen hatte.
„Also, wenn ich noch einmal mit dem Fuhrwagen den Berg hoch muss, dann setze ich mir eine Mütze auf und sage, ich sei ein Zwerg!“
„Ach, Ihr macht Euch zu viele Gedanken. Wir sind Riesenpferde – wir können alles! Ich meine, schaut Euch meine Hufe an. Die könnten Bäume mit einem Schritt zerquetschen!“
„Ha, genau! Und wenn wir mit unseren Fuhrwerken an den Zwerghäusern vorbeifahren, fangen die an zu wackeln. Bestimmt haben sie noch nie so große Hufabdrücke gesehen!“
Unter den Riesenpferden hatte sich eine Gruppe ganz besonderer Pferde gebildet. Es waren Professor Ponü, Hufus Hoflos und Wolferd Schattenloge. Während zwei von ihnen mit seltsamen Dialogen umherstampften, hielt der dritte alles heimlich fest.
Hufus Hoflos fragte: „Glaubt Ihr, die Zwerge denken überhaupt nach? Oder träumen die immer nur von ihrem Erfolg?“
Professor Ponü starrte auf seine Handzettel, blätterte und sprach mit stolzer Mähne: „Das sind Spiele für die Großen, ja gewiss…“ Er blätterte weiter.
„Spiele für die Großen?“, fragte Hufus Hoflos, der an einem Baum lehnte. Er blickte wie in einem Kreislauf immer wieder zum Spielfeld, pflegte zwischendurch seine Hufen und betrachtete seine Muskelmasse.
„Ja, äh… Nein, das war doch der andere Zettel. Vielleicht war’s der hier?“ Professor Ponü blätterte hastig. „Ah! Spiele für Groß und Klein… Nein, oder war es dieser hier…?“
Hufus Hoflos sprach: „So wie wir hier den ganzen Tag herumstampfen, müssen wir für sie wie Riesenmonster wirken! Kommt, lasst uns ein Wettrennen veranstalten: Wer von uns ist als Erster auf dem Berg?“
Wollferd Schattenloge trötete mit seinem Warnhorn, das wie eine Clownhupe klang, und grinste dabei breit, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Gespräche mussten aufrechterhalten werden, denn die Aufgabe von Wollferd war es, alle Dialoge mitzuschreiben und später den Riesen zu übergeben. Natürlich stand Wollferd nicht einfach mit Block und Stift da. Nein – er schrieb mit seinen Hinterläufen auf Papier! Und bevor ein Pferd überhaupt bemerkte, was er da tat, lenkte er die Gruppe ab: Er nickte, führte Gespräche oder trötete kurz in sein Horn.
Abends bekamen die Riesen die Aufzeichnungen von Wollferd Schattenloge überreicht, doch sie zuckten meist nur mit den Schultern. Seine Schrift konnte niemand lesen – vielleicht war es eine Geheimschrift. Genaueres wusste niemand. So gingen die Briefe schließlich per Flugpost an Umra und Valerian, die von Geistergeschichten besessen waren. In einem Punkt jedoch waren sich alle sicher: Dass Wollferd länger Urlaub hatte als andere Riesenpferde, war schon etwas seltsam.
Wie kam es eigentlich zu dem Namen „Rieserolltal“? Nun, der Ort hat eine bewegende Geschichte – und die beginnt bereits beim Namen. Ursprünglich hieß er Riesenrolletal. Das war jedoch zu lang und zu offensichtlich. Man kürzte deshalb auf Rolletal – aber das passte Umbra und Valerian nicht ins Bild. Der Ort bestand nur aus einem einzigen Weg, der schlicht 'Weg' hieß. Also wollte man kreativ werden. Mal nannte man ihn Steinweg, dann Waldpfad, anschließend wieder Steinweg und schließlich erneut Waldpfad. Mit der Zeit verschwanden die Bäume – womöglich aus verschiedenen Gründen. Übrig blieben nur Sand und die Riesen. Man dachte sogar darüber nach, den Ort in Riesensandland umzubenennen. Das hätte jedoch nicht zur eigentlichen Arbeit der Riesen gepasst. Als Umbra und Valerian noch winzig wie Wichtel waren, schlichen sie sich ins Tal der Riesen und riefen: „Riese, roll die Rolle! Roll dich, Riese! Riese, roll dich – roll die Rolle, Riese!“ So entstand schließlich der Name: Rieserolltal.
Vor Rieserolltal stand eine Windmühle und dahinter viele Bäume. Einst wurde die Mühle aus Lehm und weißem Kalk errichtet, doch wies sie aufgrund ihres Alters viele Risse auf. Die hölzernen Windräder drehten sich, und nach jeder Umrundung machte es einen kurzen Klack. Die Tür der Mühle stand offen; durch den Wind schlug sie immer wieder auf und zu. Warme Lichter kamen aus dem Inneren der Mühle. Dort drehte sich ein großes Kalksteinrad – langsam und mühsam. Das Knirschen der Zahnräder hallte durch die Stille, während sie die schwere Kalksteinrolle vor sich herschoben.
Es war bereits dunkel geworden, als der Vollmond in Richtung Mühle schien. Die Wände der Mühle wirkten wie eine Leinwand. Es sah so aus, als würde ein Ritter mit einem Schwert gegen das Mühlrad kämpfen – ein endloses Ringen zwischen Bewegung und Widerstand, ein stilles Duell ohne Sieger. Und vielleicht war es auch so. Vielleicht war es jemand, der das Windrad anhalten wollte. Am Ende war vielleicht alles nur eine Illusion, die tanzende Schattenbilder erzeugte – entstanden durch das Licht des Mondes und den Wind, der die Bäume zum Wippen brachte.
Das Spiel „Riesen Spiele für Zwerge“ war zu Ende. Die Zwerge standen da und wirkten verloren. Sie murrten, als würden sie etwas im Schilde führen. Die Riesen und die Riesenpferde verschwanden; sicherlich hatten sie noch andere Aufgaben zu erfüllen. Laut Drevil gab es eine Feier, für Luzias war es eher starker Tobak. Wahrlich, es war eine Siegesfeier ohnegleichen, unvergleichlich und unverwechselbar.
„Es war ein schönes Spiel“, sprachen Valerian und Umbra. Eigentlich wollten sie nun gehen. Doch dieses Spiel sollte am Ende anders verlaufen, als man dachte. Die Szenerie nahm Gestalt an – ein Spiel aus Licht und Schatten, Kampf und Stillstand, das den Vorhang hob für alles, was noch kommen sollte.
Zwei Wesen kamen angeflogen. Sie sahen aus wie fliegende Bäume oder Äste, erinnerten jedoch eher an Tiere, beispielsweise an Eulen oder Käuze. Vielleicht hatten sie sich nur verflogen. Sie setzten sich auf die Äste des maroden Baums und schauten hinunter auf das Spielfeld. Laut Luzias und Drevil waren es Käuze. Die zerzausten Käuze waren für ihren Schabernack bekannt.
Der alte Baum, auf dem die Käuze saßen, knarzte. Er hatte Mühe, stehen zu bleiben, wippte auf und ab sowie von links nach rechts.
„Was knirscht es hier so?“ fragte der eine Kauz. Der andere erwiderte: „Das kommt von der Mühle, die Zahnräder sind verkalkt.“
Ein schwaches Husten erklang, vermutlich durch den Wind und den Staub, der den Kalksand aufwirbelte. Die Käuze bufften sich gegenseitig an und unterhielten sich, doch sie konnten sich nicht gut verständigen, denn ein Sturm zog auf. Der Wind wehte ungehindert, sodass jeder etwas anderes hörte.
„Ja, hier ist ja was los.“
„Was ist denn bloß?“
„Moos liegt auf dem Floß?“
„Nein, bei mir sitzt nichts auf dem Schoß!“
„Sieh, es fängt an, sich etwas zu bewegen,
sie fangen an, sich zu regen.“
„Es wird dunkel und riecht nach Regen.“
„Vielleicht gibt’s gleich einen Segen.“
„Muss man vorher nicht noch alles fegen?“
„Der Regen ist manchmal wie ein Segen.“
Der Sturm legte sich, es wurde ruhiger, aber der Wind brauste und sauste weiterhin um alle Ecken. Doch das störte die Kauzen nicht. Sie hüpften auf den Ästen umher, als spazierten sie. Wiederholt neigten sie ihre Köpfe in alle Himmelsrichtungen. Mal neigten sie ihre Köpfe nach vorne, mal seitlich und schräg, mal nach unten und mal nach hinten. Wie in einem Kreislauf plusterten sie sich auf. Dann schaute einer nach rechts, während der andere nach links blickte. Anschließend schauten sie sich wieder an. Möglicherweise war es ein Tanz. Vielleicht konnten sie nicht so gut sehen oder waren vom Anblick des Geschehens fasziniert.
Die Zwerge dachten gar nicht daran, wegzugehen. Schließlich hatten sie gespielt und gekämpft, egal ob fair oder unfair. Die versprochene Medaille, die hier einfach nur „Mark“ hieß, blieb aus.
Da schaut 'ne schwarze Maus
aus ihrem gelben Haus.
„– Punkte gehen raus – Applaus!“
„Das Licht geht aus – das Spiel ist aus…“
„Jetzt geht’s nach Haus!“
Da stehen die Zwerge, mit einem Dorn in der Hand,
sie rufen: „Das ist doch allerhand.“
,,Warum musste das hier sein?
Stellt Ihr Euch selbst ein Bein?"
Da erhebt sich schon der erste Stein.
,,War’s unwillentlich? Oder versehentlich?
War es die Tat, tatsächlich?"
„Ja, so ähnlich“, heißt es dann von oben.
„Dicht dran - im Licht wirkt's nur verschroben."
,,Doch nichts wird verbogen,
nichts verschoben oder aufgehoben."
,,Ihr wart beweglich,
und bliebt nicht unbeweglich."
„Das Spiel – theoretisch ist es denkbar,
und rhetorisch auch beschreibbar.“
,,Sogar auf Papier ist es übertragbar,
damit schreibbar – und auch lesbar."
,,Es ist sogar übersetzbar."
,,Das Spiel ist erschaffbar, also machbar."
,,Und damit praktisch umsetzbar."
,,Am Ende wird’s haltbar – und damit tragbar,
so wird das Spiel schließlich verfügbar."
,,Es ist fühlbar – wenn nicht sogar spürbar,
denn es ist hörbar und sichtbar."
,,Es ist lenkbar – sonst wäre es undenkbar."
,,Ziele sind anvisierbar, vielleicht sogar erreichbar,
manchmal auch besiegbar – oder unbesiegbar."
,,Das Spiel ist spielbar, vielleicht sogar verführbar."
,,Manchmal ist es bedenkbar, dann ist es überdenkbar."
,,Und natürlich ist das Spiel formbar –
zugegeben, manchmal auch biegbar."
,,Doch was machbar ist, wird greifbar,
und was greifbar wird – ist erreichbar."
Die Zwerge seien überheblich,
doch es ist unerheblich.
„Riesen Spiele für Zwerge“ – das war namentlich,
willentlich – also: ordentlich.
Schattenbilder leuchten an der Wand.
Es ist der Teufel und schaut aufs Land.
Er feiert in jener Nacht,
ein Fest in dunkler Pracht.
„Groß und Klein?
War es Schein im Mondschein
oder das Sein vom Sonnenschein?“
Jetzt tanzt er einen finstren Reigen,
beginnt dabei, sich zu verneigen.
Da steht er schon am steilen Hange –
er kommt in Fahrt, er ist in Gange.
Allen wird es bange – doch nicht für lange.
Ein Schauder zieht durchs weite Land,
die Angst verliert sich – wie seine Spur im Sand.
Nun kommen die Kauze angeflogen,
sie fliegen durch Regionen, begleiten Ikonen,
springen wie Athleten auf schwingenden Trapezen.
Sie denken wie Strategen, planen jeden Zug,
geben Wissen einen Schub – gezielt und klug.
Nicht mal Dämonen schocken hier die Biologen,
sie sprechen in Monologen und Dialogen.
Sie sind wie Patronen – vielleicht sogar Patrioten?
Doch ohne Kanonen und echten Patronen.
Vertreten Kompagnonen und Zyklopen,
verteidigen wie Apologeten –
mit Argumenten und mystischen Prologen.
,,War’s vermessen oder hat man sich vermessen?"
,,War man besessen oder nur versessen?"
,,Hat man’s schlicht vergessen -
oder gar sich selbst vergessen?"
,,War man getrieben, gerissen –
oder hin- und hergerissen?"
,,Vom Ziel verwirrt, vom Sinn entrissen?"
,,Gefangen in des Zweifels Bissen?"
,,Wesentlich – gewiss. Wissentlich?"
,,Willentlich – vielleicht. Doch unwesentlich."
,,Spiele sind begehrlich – niemals unbegehrlich."
,,Ein Spiel: vernehmlich, mitunter vergeblich,"
,,- doch schließlich – und endlich – verbindlich."
Alles wirkt verstört, man ist empört,
und ruft: „Unerhört!“
Man wird gestört, es wird verhört.
Doch man beschwört und schwört –
und wird erhört.
Auch der Maulwurf kommt dazu,
man ruft: Warum? Und wozu?
Mit Rat und Tat
steht der Maulwurf parat.
Im Verborgenen spürt er das Geschehen,
versteht das Spiel – ohne was zu sehen.
Der Maulwurf begrüßt mit offenen Händen,
alle stehen in seinen Bänden.
Er schnuppert mit seiner Nase,
so süß wie ein kleiner Hase.
Der Maulwurf ist ein Dichter,
schaut nach oben, Richtung Lichter.
Er ist ein Denker, kein Ablenker,
denn in den Tiefen ist er der Lenker.
Er ist ein Meister, der meditiert,
der sinniert – manchmal auch philosophiert.
Er zitiert und kombiniert, so wie man musiziert,
reflektiert und analysiert – dann hat er's kapiert.
Man streikt und schreit: ,,das war nicht gescheit."
Maus und Maulwurf liegen im Streit.
Sie kriegen sich in die Haare,
die Freundschaft zerfasert, überall die Jahre.
Verheddern sich, so wie die Wolle,
wegen dieser einen Rolle.
,,Sieht lustig aus von Weiten,
die Maus mit Händen an den Seiten."
Der Maulwurf steht standhaft wie ein Stein.
Es geht wohl nicht ums Spiel allein.
Die Höhle tief, das Reich so klein,
da wollen beide Sieger sein.
„War das Spiel nur eine Sage,
stellt sich hier die Frage.“
„Die Punkte waren zählbar,
also ist das Spiel erzählbar.“
„Das Brabbeln erscheint mir recht vage,
denn laut Klage war es eine Plage –
darum her mit der Waage!“
Der Maulwurf ist kein Richter,
sondern schlichtet, wie ein Schlichter.
Es wird diskutiert, debattiert,
dementiert und oft ignoriert.
Die Maus spielt mit ihren Karten,
denkt, sie sei das Verbot und Lot,
zeigt mal Gelb und dann mal Rot,
stellt sich auf – nun heißt es warten.
Doch ist das nicht von großer Not,
denn alle sitzen im gleichen Boot.
Und sieht die Maus Maulwurfs’ Pranken,
fängt sie an zu schwanken –
ihre Reden geraten ins Wanken.
„Das Spiel war nahbar!“
„Doch von der Größe unnahbar!“
„Das Spiel war genießbar!“
„Doch der Lauf eher ungenießbar!“
„Das Spiel war messbar!“
„Doch vom Umfang unbemessbar!“
,,Das Spiel ist doch wiederholbar!"
,,Im Vergleich jedoch unwiederholbar!"
,,Es scheint sogar ersetzbar!"
,,Doch von der Größe unbesetzbar!"
,,Für die Riesen war's ein Gau,
war das Spiel auch mau und grau.
Doch für die Zwerge war's ein Graus,
– wenn auch mit Applaus."
„Wohl war’s ein Spiel, ganz klar,
doch für die ganze Schar eher rar.“
„Einerseits war’s Murmeln,
andererseits hieß’s nicht Kegeln nach Regeln.
Die Regel hieß ganz schlicht: rollen die Rollen.“
„War’s nicht! War’s wohl, so wohl!“
„Wohl war’s, das Wohl nicht so wohl!“
„Jawohl, war wahr!“
„Wie war wahr?“
„Wahr war wahr?“
,,Die Riesen schaffen munter weiter,
auch die Pferde stolzieren heiter weiter.
Das macht das Spiel nicht viel bunter.
Erstens wird man weniger munter,
und zweitens zieht’s einen runter.
Ihr sprecht von Transfer und Transformation.
Das ist doch Irritation – nur zur Information.
Denn so ist’s keine Motivation, sondern nur Mutation.
So wird am Ende aus der Vision eine Division.
Das ruft nach Legion und Formation.“
Jetzt kommt die Hex' herein
und bringt sich ein,
nimmt die Zwerge in Augenschein,
und stimmt mit ihnen überein.
,,Eigentlich, wenn nicht sogar sicherlich,
ist alles veränderlich."
,,Vielleicht erst im Morgenschein,
oder doch schon im Abendschein?"
,,Denn nichts bleibt vergesslich,
denn vermutlich willentlich,
wird eines Tages alles beweglich,
und damit veränderlich."
,,Ist dies bedenklich?
Nein, es ist unendlich."
Wie es an dieser Stelle weiterging und wie die Nacht verlief, ist unbekannt. Professor Ponü stand nicht zur Verfügung; hier hätte es sicherlich - nach Adam Riese, eine Richtung gegeben.
Manche meinen, Maus und Maulwurf hätten die Rollen getauscht. Die Maus hätte unter der Erde leben müssen und der Maulwurf über der Erde. Beim rauen Ränzel Radegunds und all den alten Würmern – ob diese Theorie wirklich stimmt, bleibt fraglich. Wie immer hätten Valerian und Umbra unbeeindruckt gewirkt und seien unnachgiebig geblieben. Mit feierlicher Geste und in Siegerpose wären sie mit ihren Pferden nach Hause geritten. „Beim flackernden Fackelschein der finsteren Fuhren. Möge der Stolz von Valerian und Umbra weichen und die Berge zieren", habe die Hexe gesagt. Das wäre natürlich nicht ganz uneigennützig, lösten sich doch immer wieder Steine von den steilen Felsen.
So viel sei gesagt: Die Pferde von ihnen – das war bekannt – sahen etwas anders aus als die Riesenpferde. Zum einen waren sie viel kleiner, zum anderen hatten sie hundeartige Schnauzen. Ihre Mähne und ihr Schwanz erinnerten an die von Löwen, ihre Ohren hingegen glichen denen von Luchsen mit Pinselohren.
Die Zwerge seien murrend nach Hause gegangen, hegten aber die Hoffnung, dass sich etwas ändern würde. Nun, selbst wenn die Zwerge gerade schlafen und davon träumen, so sollte der letzte Spieltag für sie der letzte gewesen sein.
„Eines Tages“, rief die Hexe in den Wind und durch den Mondschein, „werden die Zwerge nicht mehr spielen. Sie werden den weißen Stein in etwas anderes verwandeln. Etwas, das den Großen nicht gefallen wird - und das Wurzeln schlägt.“
Der Teufel lachte und murrte. Er wurde durch ein langes Kichern unterbrochen. Es hallte durch die Nacht, bis es schließlich verstummte und der Morgen anbrach.
Am nächsten Morgen war alles anders. Die Vögel sangen nicht mehr; nur ein Sturm brauste vor der Tür des Zwerghauses. Die Fensterläden klapperten auf und zu. Die Zwerge waren wütend und sprachen: „Es muss sich etwas ändern.“ Angetrieben von ihrer Situation schöpften sie neue Kraft. Mit einem unbeugsamen Willen versammelten sie sich, um zur Lichtung zu ziehen, wo die mächtige Hexe lebte.
Eine Schar von Zwergen, Gnomen und Wichteln begab sich nun auf den Weg zur Hexe. Ihr Weg führte sie durch Felder und Wälder, wo Schatten in Hülle und Fülle vorhanden waren und wilder Kräuterduft die Luft durchzog. Die Zwerge rochen die Wildschweine, die im Wald nach Futter suchten und miteinander kämpften. Es war Vorsicht geboten, denn sie hätten schnell zu Opfern werden können. Sie spürten die Macht des Waldes und der Wesen, die durch das Unterholz streiften.
Ein alter Bekannter, der dunkle Magier Luzifan, der sich in Drachen oder Reiter verwandeln konnte und die Geschehnisse im Umland kontrollierte, kannte die Zwerge. Er interessierte sich für ihr Handwerk. Die Zwerge waren berühmt für ihre mechanischen Erfindungen, ihre Schmiedekunst sowie ihre Festungen und Verteidigungsanlagen, die sie im Verborgenen hielten.
Luzifan wusste, dass die Zwerge zur Hexe wollten, denn sie waren mit ihr verbündet – ebenso wie er selbst – und sind diese beiden Feinde zugleich. Nur die Zwerge besaßen verbotenes, geheimes Wissen, das Luzifan brauchte, um seine Pläne voranzutreiben. Außerdem fürchtete er, die Zwerge könnten gemeinsam mit der Hexe Flüche und technische Abwehrstrategien entwickeln, um seine Macht zu schwächen oder an sich zu reißen.
„Halt! Ihr seid in meinem Reich. Was wollt Ihr hier?“, stellte sich Luzifan den Zwergen in den Weg.
„Wir wollen zur Hexe, sie will uns die Frei…“, setzten die Zwerge an, doch der Anführer fiel ihnen ins Wort: „Wir wollen zur Hexe, um einen Trank zu erbitten. Einer unserer Brüder ist krank.“
Mit kaltem Lächeln sprach Luzifan: „Ihr Zwerge wollt also zur Hexe? Bei den Beinen der Höllenspinn!“ Er stampfte auf; Flammen züngelten am Boden. „Glaubt Ihr wirklich, sie würde Euch helfen? Ha! Ihr seid hier, um mir zu dienen!“
Dann senkte er die Stimme, ein schelmisches Grinsen auf den Lippen: „Ich biete Euch einen Ausweg. Schmiedet mir eine Waffe – einzig Ihr vermögt ein Schwert, das Magie und Macht vereint.“
Die Zwerge erschraken. „Wir würden eher unsere Hämmer zerschmettern, als Euch so etwas zu schenken!“, rief einer.
Ein Gefährte der Zwerge flüsterte: „Sei still!“
Denn in Wahrheit konnten sie ohne die Macht der Hexe kein solches Werk vollbringen. Schließlich sagte der Höchste der Zwerge ruhig: „Wohlan, wir werden, wie Ihr wünscht, unser Werk vollbringen.“
„Seht zum Hügel! Wenn sich Mond und Sonne zweimal gewechselt haben, ist Eure Frist abgelaufen. Gelingt es Euch – seid Ihr frei. Scheitert Ihr – so seid Ihr meine Gefangene“, verkündete Luzifan und lachte hämisch.
„Seid vorsichtig, Zwerge. Ihr wisst nie, was im Dunkeln lauert!“
Seine geflügelten Begleiter krächzten und stiegen auf, andere Gestalten galoppierten davon, während auch Luzifan sich unter sie mischte.
Kaum hatten die Zwerge eine Lichtung erreicht, trafen sie auf einen Schatten, der wie ein Drache, doch eher einem Riesenfalken glich.
„Hört mich, Wandernde, die Ihr durch einsame Wälder schreitet, wo Nebel wie Schleier die Erde umhüllen! Ich bin Cloisteris, der Nachtjäger. Mein Licht flackert zwischen den Bäumen und erfüllt Eure Herzen mit Ehrfurcht. An meiner Seite wandeln magische Wesen. Mögen sie Hexen und Teufeln gleichen, so sind sie doch Wächter gegen deren dunkle Magie.“
Er fuhr fort: „Wer dieses Reich ohne Recht betritt, erlebt Stürme, Nebel und wandernde Felsen, die Eindringlinge vertreiben. Ob bei Tagesanbruch oder im Mondschein – wir sehen alles.“
Die Zwerge erklärten: „Wir suchen Frieden und ziehen zur Hexe auf dem Gipfel. Doch Luzifan zwingt uns, vorher eine Aufgabe zu erfüllen.“
Cloisteris nickte. „Der Waldgeist kündigte Eure Ankunft an."
,,Seht, dort am Berg liegt eine Höhle, die Euch nützen wird – doch davor erstreckt sich das Bärenland"
Im Herzen des Bärenlandes stand einst Burg Drachenfeld. Heute sind ihre Türme zerfallen, die Mauern bröckeln, und doch hausen dort durch dunkle Magie gebundene Bären.
„Seid gegrüßt, Ihr Zwerge“, klang eine Stimme. Ein lebendiger Grashügel erhob sich – das Gesicht einer Höhle, in der Licht flackerte. „Ich bin der Mönch der Berge. Cloisteris sandte Euch. Nehmt Platz.“
Auf einer moosbewachsenen Birkenbank lauschten die Zwerge:
„In Bärenland leben Gnomlinge, Waisen und Geschwister, die einander nicht kennen. Umbra und Valerian haben sie in Bären verwandelt.“ Er schloss: „Zieht weiter und erkundet das Land der Bären.“
Am Berg empfing sie ein Wächter – ein aufrecht stehender Bär mit wölfischen Pranken. „Ich bin Grimbjorn. Der Mönch sprach von Euch. Ich begleite Euch bis zur Höhle.“
Er erzählte: „Wir sind zwar freie Bären unter Valerian und Umbra, doch stehen Reiter Wache, verbreiten Furcht und halten uns in ihrem Bann. Ein unsichtbarer Zauber hindert uns, die Höhle zu betreten. Vielleicht findet Ihr darin etwas, das auch uns befreien kann. Doch gebt Acht: Schätze sollen dort liegen, bewacht von fliegenden schwarzen Kobolden und Berggeistern. Wer raubt so heißt es, erstarrt zu Eis.“
Am Höhleneingang blieb Grimbjorn zurück. Die Zwerge verspürten Hoffnung: Vielleicht lag die Lösung nicht im Kampf, sondern im Widerstand gegen den Bann.
Im Inneren glitzerte es in allen Farben, Wasser tropfte von der Decke. Dort lag ein Kristall‑Gefäß, das Umbras wie auch Luzifans Macht barg.
Ein Zwerg zog das Zauberbuch der Hexe hervor, ein anderer entzündete eine Fackel. Schwarze Kobolde sirrten heran. „Beeilen wir uns, bevor wir zu Eis erstarren!“, rief einer. Gemeinsam sprachen sie den Spruch:
„Swêr den muot gewinnet, sich ân die ketten ze lösen, der söl nimmer me ze schimfe sich bergen.
Sîn wîc lât in unvermîdlich gân den weg der vrîheit.“
Bläuliche Funken tanzten, da erklang die Stimme der Hexe im Echo:
„Wer den Mut findet, sich aus den Ketten zu befreien, wird nie wieder Zuflucht im Schatten suchen.
Sein Weg führt ihn unaufhaltsam auf den Pfad der Freiheit.“
Der Kristall zersprang, Luzifans und Umbras Macht schwand. In der Ferne brüllte Luzifan: „Was habt Ihr getan? Wir sehen uns wieder!“ Doch sein Stimmenhall verebbte.
Beim Verlassen der Höhle schloss sich der Eingang wie von Geisterhand; nur ein Berg blieb zurück. Die Bären verwandelten sich in Gnomlinge und schlossen sich den Zwergen an. Frohlockend feierten alle am Lagerfeuer. Im Morgengrauen brachen sie auf – mutig und entschlossen, ihre Reise zur Hexe fortzusetzen.
Als die Zwerge und Gnomlinge weitergingen, sahen sie zwischen den Gräsern, die so groß wie Bäume waren, große Wollschafbären. Sie erinnerten an die Hunde der Riesen. Die Bären grasten und kauten genüsslich auf Grashalmen, was so klang, als würden Bäume durch einen aufkommenden Windsturm fallen. Stumm und erwartungsvoll beobachteten sie das Geschehen um sich herum.
Der Weg war noch weit, und nach aller Freude und dem Feiern wandte sich erneut das Blatt. Es gab Prüfungen und Hürden, die die Zwerge und Gnomlinge noch meistern sollten. Einen einfachen Fußmarsch hatten sie sich anders erträumt. Je tiefer sie in den Wald vordrangen, desto stickiger und dünner wurde die Luft.
Alles wirkte riesig und nah, und wenn sie zurückschauten, sah alles weit und klein aus, wie Miniaturen. Der Gipfel der Hexe, der aus der Ferne für die Zwerge stets unbeklimmbar schien, wirkte plötzlich nah – ja, fast wie ein Hügel, der die Zwerge freundlich begrüßen wollte. Vielleicht wollte der Berg ihnen zeigen, dass sie bald am Ziel waren.
Das Wetter und die Wildnis wurden ungezähmter, flacher und übersät mit Geröll. In der Sonne glänzten die Felsen, als hätten Riesen mit ihnen wie mit Spielbällen geworfen. Ein Chaos aus Steinen, zerbrochen, verteilt und wild verstreut. Auf einmal standen die Zwerge und Gnomlinge nicht mehr im Wald, sondern in einem kahlen Tal; mal schien die Sonne, mal schneite es. Es war ein ödes Land, in dem viel zu wenig Luft war, als dass hier Pflanzen jemals gedeihen könnten.
Dieser Ort wirkte wie eine Zeitmaschine. Es war, als wäre die Zeit hier stehen geblieben. Vielleicht war er gerade erst verlassen worden. Und wenn hier alles nur eine Illusion gewesen wäre – warum waren dann die Schluchten, vor denen die Zwerge und Gnomlinge plötzlich standen, so tief? Es sah so aus, als hätten Riesen aus Flüssen wie aus Gläsern getrunken und dabei nur eine Pfütze zurückgelassen, die sich nun als schmaler, leiser Fluss durch tiefe Schluchten zog. An manchen Stellen gab es flache und breite Ausbuchtungen, die Seen glichen. Vielleicht waren es einmal tatsächlich Seen, in denen die kleinen Riesen gebadet und getobt hatten, bis kein Wasser mehr darin war.
Durch das dichte Unterholz trabten Riesenrinder mit mächtigen Hörnern, die aus den Nebelbänken auftauchten. Ihre Hufe hinterließen tiefe Abdrücke im Boden. Riesenhirsche reckten ihre Geweihe zum Himmel, als wollten sie mit den Sternen sprechen, und Steppenbisons stampften mit langsamen, schweren Schritten durch das Tal, begleitet von Auerochsen, die in der Ferne wie wandernde Felsen wirkten. Höhlenlöwen mit goldenen Mähnen und Flügeln aus Federn saßen auf hohen Felsen. Höhlenhyänen, mit schwarzem Federkleid bedeckt, jagten nicht mehr in Rudeln, sondern bewachten uralte Steinkreise, in denen das Gras nie wuchs. Und die Höhlenbären, Kolosse mit riesigen Flügeln, thronten wie uralte Wächter. Über ihnen kreisten keine Riesenadler, sondern Kreaturen mit Flügeln, die so mächtig waren wie sie selbst – halb Tier, halb Legende.
So mächtig all diese Tiere auch waren, hatten sie doch ein gemeinsames Problem: Sie konnten nicht fliegen. Waren sie etwa Verwandte der Pinguine, die Flügel haben, aber nicht fliegen können? Vielleicht. Doch es schien, als würden die Geschöpfe die Wahrheit hinter ihren kleinen Augen und riesigen Gesichtern verbergen. Und dennoch verrieten sie etwas: Sie befanden sich an einem besonderen Ort, an dem nur wenigen das Fliegen gestattet war. Hier, inmitten dieser ehrfurchtgebietenden Tiere, begann das Reich der Hexenspiele und Teufelsbräuche.
Zwei Mammutbären mit Hörnern, die so groß wie Schneeschaufeln waren, räumten die Wege frei. Es war ihre Aufgabe, erteilt von wem, das sagten sie nicht. Die Zwerge und Gnomlinge nahmen Platz auf diesen Tieren. Ihre Sättel glichen kleinen Hütten, behaglich wie ein Feuer, an dem sie sich wärmen konnten. Die Mammutbären waren so etwas Ähnliches wie heutige Schneemaschinen. Doch wie sie arbeiteten, erinnerte eher an einen Stierkampf mitten im Schnee. Sie senkten ihre Köpfe, drückten ihre Hörner in den Schnee und schaufelten. Dabei neigten sie ihre Köpfe in alle Richtungen, sodass es aussah, als würde es schneien. Sie schnauften, und ihr Atem glich riesigen Dampfwolken.
Drinnen in der Hüttenstube knisterte das Feuer. Während die Zwerge Holz nachlegten und Wache über das Feuer hielten, kam Rauch auf, und es zischte. Einer der Gnomlinge, der das Geschehen beobachtete, rief: „Das ist ja ein Drache! Wo kommt er her?“
„Na sowas, Besuch!“, sprach der Drache. „Ich bin ein Feuergeist! Ein Feuersalamander, Funke heiße ich."
Wenn Funke auftauchte, war ein Donnerknall nicht weit! "Immer wenn sich Feuchtigkeit mit Wärme vermischt, komme ich hervor."
Er sprach mit den Zwergen und Gnomlingen über den geheimnisvollen Berg. Was sie genau besprachen, bleibt ungewiss. Doch wenn du heute durch das Tal wanderst und der Wind weht, als würde er klagen, dann spricht er zu dir.
Der Weg, den sie vor sich hatten, dauerte zwei Sonnenaufgänge und zwei Monduntergänge. Dann waren sie da, aber noch nicht am Ziel. Die Zwerge und Gnomlinge stiegen herab, und noch ehe sie sich umdrehen konnten, verstummten die Tiere, wie ein großer Fels; mehr war von ihnen nicht mehr zu sehen.
Alsbald gelangten die Zwerge und Gnomlinge zu einem weiteren Berg, den sie erklimmen mussten. Kurz vor dem Gipfel sprach ein Zauberer zu ihnen: Finlas Bamir, Auserwählter seines Dorfes, Hüter der Stürme und des Wilden Pfades – ein uralter Zauberer, der durch tiefe Wälder, Berge und verborgene Pfade wanderte.
Ein Teil der Landschaft, schmaler als ein Baum, bewegte sich dieser Zauberer wie ein Tier. Umhüllt in einen schweren Mantel, verbarg eine tiefhängende Kapuze sein Gesicht. Wie ein Elf sah er nicht gerade aus, denn die gibt es hier nicht. Und hätte es doch einen gegeben, wäre er wohl an dieser Welt zerbrochen – an ihren Regeln, die niemand versteht, an ihrer Hektik, die keine Ruhe duldet. Vielleicht war er ein Zwerg, doch für die Tiere wäre er dann zu klein gewesen. Aber was war er dann? War es etwa ein verwunschener Prinz? Nunja, vielleicht, man weiß es nicht.
Finlas war kein Mensch, sondern ein Wesen, das seinen Gefährten glich. Viele erschraken bei seinem Anblick, weshalb er seine Kapuze beim Sprechen nur leicht anhob, sodass man meinen konnte, ein Mensch blicke einem in die Augen. Seine Augen waren oval und so grau wie die Erde, doch die Augenfarbe schien sich beim Sprechen zu verändern, mal gelb, mal rötlich. Sein Umhang war aus roten Farben mit weißen Punkten, der wie ein Fliegenpilz wirkte. Die Hände erinnerten an Vogelkrallen. Auf dem Rücken trug er eine Art Geweih, das mit Runen überzogen war – ein Artefakt, das als Zauberstab diente und zugleich als Waffe, wenn Gefahr drohte. Aber sein Geweih war mehr als nur eine ein Zauberstab, denn zwischendurch zischte es; das Geweih war auch eine Schlange. Wenn Gefahr drohte, drehte sie sich zu Finlas um, um ihn zu warnen, doch wenn Frieden herrschte, blieb sie starr wie ein Stock oder Stein.
Finlas Gefährten, Kreaturen aus den Sagen und Legenden des Gebirges, gehorchten ihm nicht nur, sie fühlten sich von seiner Aura angezogen. Es waren Wölfe in Pferdegestalt, Eisbären mit der Kraft und Anmut von Luchsen, ausgestattet mit Hufen und Hörnern, die aus Kopf und Rücken wuchsen. Diese urzeitlichen Wesen hatten Hörner in unterschiedlichen Formen: Einige waren kurz und dienten als Antennen, um magische Energie zu bündeln, während andere aus ihren Armen und Fäusten wuchsen und ihnen zusätzliche Zerstörungskraft im Nahkampf verliehen.
Sie waren Hüter, Wächter und Krieger der Berge, Täler und Höhlen, wo sie sich mit ihren Hörnern in Felsen gruben oder sich in engen Schluchten versteckten, um Eindringlinge zu überraschen. Durch das Bündeln und Freisetzen von Energie mit ihren Hörnern beschworen sie Magie herauf. Sie verkörperten Mut, Kraft, Schnelligkeit, Freiheit und hielten das Gleichgewicht zwischen Natur und Übernatürlichem. In ihnen vereinten sich Schönheit und Gefahr.
In den Dörfern und Bergen erzählten Zwerge, Kobolde und Wichtel, dass diese Kreaturen von Hexen und Geistern erschaffen worden seien, um Aufgaben zu erfüllen und Eindringlinge zu prüfen. Sie waren auch Seher und Vorboten von Veränderungen. Manche behaupteten, diese Mischwesen seien verfluchte Kreaturen, die von Hexen oder Zauberern verwandelt worden waren, nachdem sie als Eindringlinge die Natur geplündert und Bergschätze geraubt hatten.
Das Gemüt von Finlas war sanft, doch auch unberechenbar und im Zorn unaufhaltsam. Er war in der Lage, Dämonen zu rufen und auszusenden, jedoch nicht aus böser Absicht. Diese Dämonen waren Naturgeister und Seelen der Wildnis oder gefallene Naturwesen, die in Gestalt von Kreaturen in seiner Nähe verweilten. Sie halfen ihm, die Wälder und seine tierischen Begleiter zu schützen.
Wer Finlas begegnete, wusste oft nicht, ob er als Freund oder Feind kam. Seine Gefährten beschützten ihn, und er sorgte im Gegenzug für ihre Heilung und Sicherheit. Er besaß die Gabe, mit Tieren zu kommunizieren und sie in ihre ursprüngliche, wilde Natur zurückzuführen. Das größte Ziel von Finlas war der Schutz der uralten Wälder und ihrer Geheimnisse. Er hoffte, dass alle Wesen und Kreaturen des Waldes eines Tages die Natur wieder ehren würden, damit er seine dämonischen Begleiter entlassen und selbst in den Frieden zurückkehren könnte.
Finlas sprach zu den Zwergen: „Ihr müsst zurückkehren. Hier treiben Trolle ihr Unwesen, und ein Magier kämpft gegen mich. Meine Geschöpfe und ich können Euch nicht beschützen.“
Jetzt waren alle enttäuscht. Bedeutete das etwa das Ende? „Das wird nichts mit unserem Gesuch bei der Hexe,“ sagten sie traurig. Doch Finlas Bamir sprach weiter: „Gebt nicht auf! Schaut, wie weit Ihr schon gekommen seid. Wollt Ihr das alles aufgeben? Seht dort die Waldlichtung! Und wie hell sie leuchtet! Es scheint, als gäbe es einen Weg.“
Die Zwerge und Gnomlinge folgten Finlas Rat und gingen weiter. Sie erschraken als sie einen großen Schatten sahen, der wie ein Monster oder der Teufel aussah.
„Es ist der Nebel, der Euch umhüllt. Im Lichte dort sind es nur die eigenen Schatten, die der Mond frisst. Habt Mut und geht weiter. Die Hexe erwartet Euch bereits,“ sprach eine unbekannte Stimme.
Es war Tharon Bamir, Finlas Zwillingsbruder. Im Gegensatz zu seinem Bruder durchstreifte Tharon die geheimnisvollen Dämmerungszonen der Natur. Er durchstreifte Wälder, neblige Sümpfe und verborgene Pfade. Als Stratege und Meister der Tarnung lebte er im Verborgenen, um die Geheimnisse der Natur zu bewahren. Während Finlas mit Kraft und Wut in die Welt trat, setzte Tharon auf List und Geduld. Er beobachtete heimlich, plante seine Schritte sorgfältig und griff nur ein, wenn es wirklich nötig war.
Seine treuen Gefährten waren magische Wesen aus den Grenzwelten, die zwischen Zivilisation und Wildnis reisen konnten. Wie Tharon waren sie Meister des Überlebens in den von Kreaturen beherrschten Gebieten und lebten am Rande dieser beiden Welten. Er war der Hüter der geheimen Schätze des Waldes und besaß magische Fähigkeiten, die es ihm ermöglichten, unbemerkt durch die Landschaft zu gleiten.
Tharon konnte Illusionen weben und sich und seine Gefährten tarnen. Seine Kreaturen schlichen wie geschickte Spione durch die Wälder, erkannten Gefahren, bevor sie entstanden, und fungierten als Botschafter zwischen Tieren und Wesen, die die geheimen, dunklen Pfade kannten. Sie sammelten Informationen und entdeckten Dinge, die anderen verborgen blieben. Wie ein geschickter Dieb sicherte Tharon wertvolle Geheimnisse, um sie vor falschen Händen zu schützen.
Während Finlas, der Hüter der Stürme und des wilden Pfades, offen und mächtig war, spielte Tharon die subtile, aber ebenso wichtige Rolle des Hüters der Schatten. Zusammen repräsentierten die Zwillinge zwei Seiten der Natur: die unbändige, wilde Kraft und die schelmische Wildnis. Sie ergänzten sich perfekt und arbeiteten zusammen, um die Welt im Gleichgewicht zu halten. Während Finlas mutig gegen Bedrohungen kämpfte, schützte Tharon im Verborgenen vor versteckten Gefahren.
Tharon geleitete die Zwerge und Gnomlinge mit seinen Begleitern, sodass diese unbeirrt weiterziehen konnten. Manche Gnomlinge waren müde, sodass sich Tiere niederbeugten. Auf dem Rücken der Tiere befanden sich sattelartige Beutel aus weichem Fellstoff. Dort konnten sich die Gnomlinge einmurmeln und ausruhen. Auch einige Zwerge verkrochen sich in den Beutelsäcken und schauten in Richtung Waldlichtung.
Die Tiere trabten mit langsamen Schritten voran. Ihre schweren Schritte über Stock und Stein glichen einem sanften Schaukeln oder dem Segeln auf dem Meer. Das feine Vibrieren und das Stampfen der Tiere im Unterholz klangen wie ein knisterndes Feuer. Sie wiegten die Gnomlinge in den Schlaf, und die Zwerge kamen zur Ruhe; die Sorgen verflogen. Obwohl der Weg weit war, kamen sie am Ende zügig voran. Tharon redete weniger, als er sprach, doch so wie seine Augen funkelten, waren seine stillen, weisen Worte. Bald erreichten sie die Waldlichtung. Wieder beugten sich die Tiere nieder, und auch die Gnomlinge stiegen aus den Beutelsäcken.
Tharon erhob seine Stimme und sprach: „Hier endet mein Reich. Nun werde ich zurückkehren. Ich wünsche Euch Glück auf Eurem weiteren Weg.“
Jetzt standen die Zwerge oben am Berg,
blickten hinunter auf das weite Werk,
ins Tal, das sich weit und klar entfaltet,
im Licht der Sonne, das alles gestaltet.
„Seht“, sprach einer, „wie der Schnee
von Felsen glitzert, hell und jäh.
Der Berg ruft, stolz und weit,
sein Gipfel glänzt in Ewigkeit.“
Die Zwerge schauten still und leis,
im Herzen ward es warm und heiß.
Ein Traum erwachte, sanft und klar,
ein Wunsch so nah und wunderbar.
Für einen Moment schauten sich die Zwerge und Gnomlinge fragend an, denn nun waren sie allein. Doch sie waren entschlossen, ihr Ziel zu erreichen und die Hexe um Rat zu fragen. Doch der Weg trennte sie – durch den Aufstieg zum Gipfel, jenen Ort, den selbst Tiere mieden und an dem der Nebel Namen trug. Dort, wo kein Baum mehr wuchs und das Moos den Stein nicht hielt, lag der Berg der Hexen.
Man sagte, hoch oben, wo die Bäume dichter standen und das Licht sich in Tautropfen verlor, beginne ein anderes Reich. Manche sahen dort einen gewaltigen Umhang aus Nacht, andere ein Gesicht – so gefurcht wie uralte Baumrinde, aus deren Spalten Moos und Motten stiegen.
Der Nebel verschlang die Zwerge und Gnomlinge bereits unterhalb der letzten Nadelbäume. Doch sie gingen weiter. Sie kannten das, was der Berg verbarg. Der Wind heulte um die Felsen. Das Klima war unberechenbar – an einem Tag warm und sonnig, am nächsten bitterkalt und verschneit.
Vor dem Ziel der Zwerge lebten Riesengeschöpfe der Wildnis – Wesen, so groß wie die Felsen des Gebirges, von tierhafter Gestalt und uraltem Geist. Niemand hatte sie je gesehen. Man sah sie nicht; nur manchmal hörte man ein Schnaufen unter den Wurzeln, ein Scharren in der Luft, ein Klopfen wie von Hufen im Nebel. Sie herrschten nicht – sie hüteten und begleiteten. Sie waren das Gleichgewicht des Wandels.
Und da standen auf einmal die Wesen vor den Zwergen – Mammuts – still und sanftmütig, riesenhaft, mit Hörnern, die wie Zügel eines Pferdes glichen. Ihre Augen waren wie Glut. Ein leises Trompeten erklang, gefolgt von einem Schnaufen, einer Dampfwolke. Die Zwerge zitterten vor Ehrfurcht, doch sie wussten, wohin sie wollten.
Die Mammuts sprachen nicht mit Worten, sondern durch ihre Augen. Es gab keine Versprechen, keine Schwüre. Wer die Kunst verstand, konnte ihre Gedanken sehen, ohne einen Laut zu verlieren. Die Mammuts beugten sich majestätisch nieder. Ein sanftes Grollen wie von einer Schneelawine erklang. Auf den Rücken der Tiere waren Sitze, bequem, sicher und behaglich. Die Zwerge und Gnomlinge stiegen ein.
Ein leichter Windhauch und ein Schwindelgefühl erfüllten die Zwerge und Gnomlinge, als die Mammuts sich erhoben. Die Tiere trabten mit schweren Schritten voran. Das Fortbewegen glich dem Reiten durch die Wüste mit Kamelen, nur unter anderen Wetterbedingungen. Ein dumpfes Stampfen im Schnee war zu hören, der Wind wehte kalt, doch die Zwerge und Gnomlinge waren durch den warmen Atem und den Dampf der Tiere geschützt.
Während die Zwerge und Gnomlinge die Aussicht genossen, fingen die Mammuts an zu erzählen, doch nicht mit Worten, sondern durch das Traben und das Stampfen im Schnee.
Weit oben, dort, wo kein Baum mehr wuchs und das Moos den Stein nicht halten konnte, lag ein Ort, den kein Wesen und kein Tier betrat. Der Gipfel trug viele Namen – doch keiner blieb für ewig. Der Wind fegte sie fort wie altes Laub. Man sagte, das Wetter auf dem Berge habe einen eigenen Willen. Es folgte keinem Lauf der Sonne, keinem Wandel der Monde. Der Himmel konnte klar sein, doch binnen eines Atemzugs zogen dunkle oder weiße Wolken auf.
Stimmen hallten aus Richtungen, die nicht existieren sollten. Der Wind brüllte wie ein Bär oder heulte wie ein Wolf, der dort nicht lebte. Er röchelte, lachte und flüsterte. Dann wiederum lösten sich der Nebel und die Wolken auf. Und wieder wandelte sich das Wetter. Es war wie mit der Ebbe und Flut oder dem Wandel zwischen Tag und Nacht. Mal wurde der Tag zur Nacht, und mal wurde die Nacht zum Tag. In diesen Schwaden, so hieß es, zeigte sich der Nebelgeist. Kein Wesen aus Fleisch, kein Dämon, sondern eine Erinnerung. Der Berg sei ein Spiegel – doch war es nur der eigene Schatten? Oder der des Nächsten?
Am Ende ihres Weges beugten sich die großen Wesen erneut. Ein Schwindelgefühl – als zöge der Wind sie magnetisch hinab, doch sie fielen nicht. Die Zwerge verneigten sich tief vor ihren Begleitern.
Die Mammutwesen verschwanden, so wie sie gekommen waren – im Nebel und den Dampfwolken. Nur ein dumpfes Stampfen im Schnee und ein leichtes Vibrieren waren noch zu hören.
Als sich Nebel und Sturm verdichteten und der Wind begann, mit Stimmen zu sprechen, die niemand kannte, begegneten sie dem Geist des Berges. Der Nebel nahm Gestalt an: Krallen aus Dunst, Schatten aus Licht.
„Wenn uns das Jahr auch niederdrückt,
ein Stern dort oben uns beglückt.
Er leuchtet fern, doch führt er sacht –
auf dass ein neuer Tag erwacht.“
„Wer Eisen trägt, der hält das Land,
wer Wind umfängt, der reicht die Hand.
Die Last ist schwer, doch seht – der Schnee
ist nicht das Ende, nein – er lebt!“
So endet nun, man denkt, die kurze Reise,
die Hoffnung bleibt, ganz still und leise.
Vom Berg her klingt ein ferner Ton,
der Frieden bringt und nimmt den Zorn.
Als die Zwerge und Gnomlinge zum Berghaus kamen, geschahen seltsame Dinge.
„Seht, Herr. Da kommen sie,“ sagte der Bock, der Hexaris begleitete, leise. „Seid still, oder wollt Ihr, dass wir auffliegen? Ich regle das,“ antwortete Hexaris.
Wer Hexaris sah, musste unweigerlich an den Teufel denken. Er trug zwei Hörner auf dem Kopf, und an seiner Seite stand ein Ziegenbock. Tatsächlich war der Luzifan, dem die Zwerge begegnet waren, kein anderer als Hexaris selbst – ein geschickter Verwandlungskünstler, der mit List und Tücke nicht nur die Zwerge irreführte. In der Höhle, in der sich die Zwerge einst aufhielten, lag ein Machtzentrum, das stark genug war, um das Gleichgewicht zwischen den Kräften des Guten und des Bösen zu bewahren. Diese Höhle war der geheime Treffpunkt der guten Hexe und des Teufels, die sich einmal im Jahr trafen, um ihre Kräfte zu vereinen.
Die gute Hexe setzte ihre Magie ein, um das Reich der Zwerge und Gnome zu schützen, während der Teufel seine List und seine Intrigen nutzte, um die wahre Unin Absichten der Besucher zu testen. Gemeinsam hielten sie das Machtzentrum aufrecht, das nicht nur die Dunkelheit fernhielt, sondern auch dafür sorgte, dass die Zwerge und Gnome in Harmonie lebten, fernab von den Versuchungen und Konflikten, die aus dem Chaos der Welt entstehen könnten.
Hinter Hexaris stand ein Trupp schwer bewaffneter Ritter. Waren es Wachen, Söldner oder Krieger? Niemand wusste es, und keiner wagte es zu fragen. Was als Nächstes geschehen würde, blieb ungewiss.
„Guten Abend, Zwerge“, sagte Hexaris. „Guten Abend, Herr…“ Ein Zwerg stupste den Sprecher an und flüsterte: „Das ist Luzifan… Luzi-fan.“ Über Hexaris huschte ein Schmunzeln, begleitet von einem bösen Blick. Er schwieg für einen Moment und fragte dann: ‚,Ist etwas, Zwerge?“
„Nein, nein,“ antwortete der Zwergensprecher hastig. „Wir wollen zur Hexe.“ Hexaris erwiderte: „Gewiss, das weiß wohl. Kommt mit, die Hexe erwartet Euch. Ich werde Euch zu ihr führen.“
„Es ist doch Luzifan! Woher sollte er sonst wissen, dass wir kommen?“ rief ein Zwerg zornig.
„Ich bin nicht Luzifan, das war… ja, das war mein Halbbruder, den Ihr getroffen habt, genau so war es!“ stammelte Hexaris. „Ihr wollt mich wohl an den Hörnern packen!“ Er lachte dabei gezwungen.
„Warum wisst Ihr dann so viel?“ fragte ein anderer Zwerg misstrauisch. Hexaris schaute nervös um sich. „I… ich äh… Ihr habt doch davon gesprochen…“ Die Zwerge begannen in der Gruppe zu murmeln und zu meckern.
Hexaris wurde wütend, stampfte mit einem Fuß, der wie ein Huf aussah, auf den Boden und schrie: „Bei der Galle der alten Kröt! Wisst Ihr nicht in welchem Reich Ihr Euch befindet?“ Doch diesmal brach weder das Erdreich auf, noch bebte der Boden, sondern es entzündeten sich Kerzen, deren Flackern den Platz erhellte, der allmählich in der Dämmerung versank.
Nun, Hexaris war nicht nur ein Verwandlungskünstler, sondern auch ein Charmeur. An diesem Tag zeigte er all seine Künste. So verschwanden unerwartet seine Hörner, und selbst der Bock verwandelte sich in einen Wolf, der plötzlich geschwollen sprach und sich als verspielter Begleiter zeigte.
„Guten Abend, edle Gäste. Erlaubt mir, mich vorzustellen, da uns bisher die Ehre der Bekanntschaft vorenthalten blieb. Mein Name ist Wachimir. In dieser illustren Nacht bin ich der Hüter und treue Begleiter, der Euch mit großer Sorgfalt und Sicherheit zu Eurem angestrebten Ziel geleitet“, sprach der Wolf, während er verspielt umherlief und hinzufügte: „Beeilt Euch, wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bevor es heute Abend…“ Hexaris unterbrach den Wolf, indem er ihn sanft streichelte und dabei leise lachte.
Ein Zwerg murmelte vor sich hin: „Das wird ja immer schauriger“, während gleichzeitig ein Gnomling dem Zwerg auf die Füße trat und ihn dabei anlächelte. Die Zwerge und Gnomlinge wurden still und lenkten ein. „Wir möchten zur Hexe. Wir sind in Euer Reich eingedrungen und suchen die Freiheit. Wenn Ihr uns dorthin begleitet, werden wir Euch folgen.“
„Wohlan“, sprach Hexaris. „Bitte folgt mir. Wir müssen durch tiefes Gestein; dort befindet sich eine Burg im Untergrund. Dort wird Euch die Hexe erwarten.“ Sie liefen durch ein Labyrinth und tiefe Kellergewölbe. Das Gewölbe leuchtete in einem sanften Licht. Wachimir war ungeduldig: „Beeilt Euch! Heute ist ein großer Tag.“ Gleichzeitig lief er hin und her und hechelte, was wie Worte klang:
Durch Nacht und Nebel, wo Magie webt,
schreiten Wesen im Mondlicht, das Geheimnisse hebt.
Die Schatten kichern, laden ein zum Fest,
wo Fantasie und Realität sich vereinen, ganz fest.
Die Zwerge und Gnomlinge waren über Wachimir und Hexaris längst nicht mehr verwundert; sie trappten ihnen hinterher und betrachteten etwas argwöhnisch das Gewölbe. Über ihnen flatterten Fledermäuse, Spinnen krabbelten an den Wänden vorbei, und auf dem Boden saßen Kröten. „Hier soll die Hexe wohnen?“ sprach ein Zwerg. „Hier wohnen vielleicht Wichtel, aber nicht die Hexe. Die Kellertüren sind doch viel zu klein für sie“, sagte ein anderer Zwerg.
Plötzlich hob Hexaris seine Hand. „Hier sind wir nun. Die Hexe erwartet Euch. Ich selbst muss fort und werde nicht dabei sein.“ Während sich die Tür öffnete, löste sich Hexaris in Rauch auf, und mit ihm auch der Wolf.
,,Willkommen“, sprach die Hexe. „Ja, das ist sie“, antwortete ein Zwerg. „Ich erkenne Euch an Eurer Stimme und Eurem Wesen.“
Die Hexe sprach ein paar Worte, während sich die Tür schloss. Was hinter der verschlossenen Tür ausgeheckt wurde und was sich dort zusammenbraute, bleibt ungewiss. Es heißt, dass die Hexe sich die Geschichte der Zwerge anhörte und gemeinsam fanden sie einen Weg, die Mächte zu besiegen und das Machtzentrum von Valerian und der Herrin Umbra zu zerstören. Die Zwerge und Gnomlinge wurden aus dem Bann befreit.
Die Turmuhr läutete, und ein Portal mit einem blauen, flackernden Licht öffnete sich. Die Hexe hielt den Gnomlingen und Zwergen die Hand hin, und gemeinsam schritten sie durch das Licht.
Als sie auf der anderen Seite angekommen waren, sahen sie ein Tal. Es heulte der Wind kläglich, und mitten im Tal, wo nimmer ein Bau stand und kein Wesen weilte, stieg ein Feuer zum Himmel empor. Das Feuer war nicht bloß ein Flackern, sondern glich einem warmen und heiligen Platz, als wäre es geschaffen, damit sich das mystische Wesen darum versammle und in alter Zunge Zaubersprüche spreche. Sie sprachen Reime, um das Gute herbeizuschwören und das Böse zu vertreiben; sie läuteten die prächtige Zeit des Frühlings ein.
Hexen flogen auf einem Besen umher und kicherten. Auch Hexaris und Wachimir nahmen ihre ursprüngliche Gestalt wieder an und tanzte mit den Hexen. Die Hexe sprach: „Heute ist ein Tag, an dem wir etwas zu feiern haben. Seid willkommen!“
Eine Hexe flog auf ihrem Besen an den Gnomlingen und Zwergen vorbei und kicherte dabei. Neckisches Gelächter hallte durch das Tal. Die Zwerge und Gnomlinge waren von dem Spektakel beeindruckt. Sie schauten verwundert, denn auch den Wanderer trafen sie wieder, der ihnen die Geschichte von Hirschstrom erzählt hatte.
Aus dem Schatten des Gipfels, aus dem Licht des Feuers, stiegen weitere Hexen empor. Sie flogen durch die Nacht, als trieben sie ein fröhliches Wettfliegen, ein Rennen durch Dunst und Dunkel. Nicht nur auf Reisigbesen ritten sie, sondern auch auf schwarzen Ziegen, deren Hörner silbern glänzten, und auf Pferdeböcken mit Flügeln und goldenen Hörnern. Ihre Sättel waren aus fellartigen, samtweichen Decken gefertigt, geschmückt mit edlen Erzkristallen, wie sie nur tief in den Bergen ruhten. Manche Besen glichen krummen alten Hölzern, doch sie wandelten sich wundersam in geflügelte Schlangen, die sich in der Luft umschlangen, gleich den Drachenschwingen uralter Zeiten.
Zwischen den kunstvollen Flügen der Hexen wurden Zwerge und Gnomlinge mitgenommen, um ihnen die Reiche und Schattenseiten von Valerian und Umbra zu zeigen. Doch ebenso nahmen sie Gnomlinge mit, um ihnen die schönen, guten und zauberhaften Orte wie Hirschstrom und andere wundersame Gegenden zu zeigen. Die Zwerge bekamen Flugbrillen, die gleichzeitig auch Ferngläser waren. Manche Zwerge saßen direkt vor den Hexen, einige hockten auf ihren Rücken, während andere sich mutig an den geschwungenen Hörnern der Böcke festhielten. Doch sie waren sicher angeschnallt durch unsichtbare Magnete, was auch notwendig war, denn die Kunstflüge glichen Flugmanövern, wie du sie vielleicht von heutigen Düsenjets kennst. Die Gnomlinge hingegen krochen in winzige, warme Rucksäcke, aus deren Öffnungen sie hinausschauten, den Blick weit hinaus in die Welt gerichtet, voller Staunen.
Alle lachten, nicht hell, sondern mit einem zischenden, neckischen Lachen, einem Kichern, das einem Schauer über den Rücken glitt. Sie flogen und durchkreisten das Tal, tanzten einen wilden, finsteren Reigen, einen Umzug um den Gipfel selbst, als wäre er ein heiliger Ort.
Ihre Gestalten wandelten sich; mal glichen sie dunklen Schatten, mal Lichtern, und jede war wie ein Schleier zwischen dieser und jener Welt. Bald schloss sich der Kreis; nichts war mehr zu vernehmen, kein Laut, kein Ruf, nur Wind und Nebel, die uralt schienen wie die Welt selbst.
Hirschstrom ist alt – so alt, dass es noch keine Hütten, Häuser und Bücher gab. Und doch existierten Naturreligionen, uralte Bräuche und Rituale. Dennoch blieben viele Phänomene und Ereignisse unerklärt und mysteriös. Da erinnerte man sich: Was lauerte damals am Boden, in den dunklen Wäldern, wo seltsame Wesen und Gestalten umherstreiften? Man erzählte sich Geschichten von Hexen und dem Teufel. Kekse gab es noch nicht, denn die Öfen waren aus, und der Teig musste erst gefertigt werden.
Diese Wesen waren weniger Unheilsbringer, wie sie in manchen Büchern beschrieben werden. Nein, sie waren wissend in der Kräuterkunde, konnten heilen, zaubern und verwünschen. Sie waren bewandert in der Narrenkunde, Lehrende der Torheit, Hüter alten Wissens, Verkörperungen von Warnung und Mahnung. Es waren Erscheinungen, die von Moral und Umkehr sprachen. Manche wirkten finster oder gar böse, und doch waren sie zugleich ein Spiegel dunkler Seelen, offenbart durch die Nachtgestalten selbst.
Alle feierten die Nacht, bis die ersten Morgenstrahlen den Himmel erhellten. Dann legte sich eine unheimliche Stille über den Platz, der wie leergefegt schien. Ein paar Vögel zwitscherten nervös, während der Wind durch die Lüfte blies. Die Zwerge und Gnomlinge hatten große Mühe, sich festzuhalten. Krähen und Raben kamen angeflogen, ein dunkles Schwirren, das sich auf den Ästen der Bäume sammelte. Ein schauriges Krächzen hallte durch das Tal und ließ die Kälte bis in die Herzen der Anwesenden kriechen. Weit entfernt vom Marktplatz feierte der Teufel ein neues Fest - sein eigenes. Geier luden sich ein. Hoch über dem Himmel umkreisten sie das Fest. Die Geier stimmten mit ein.
Der Würfel verliert sich im Rauch.
Das kann der Teufel auch.
Die Würfelzahlen verschwimmen.
Von oben erklingen die Geierstimmen.
,,Obacht! Es ist die Acht,
sie wacht, denn sie ist unendlich,"
,,das ist unmissverständlich - verständlich."
,,Sie scheint sich zu biegen, so wie die Sieben."
,,Wird man's schieben oder verschieben?"
,,Vermutlich wird man siegen."
,,Vielleicht wird sich wer erheben?"
,,Dann wird sich was ergeben."
,,Drum sei's vergeben."
,,Nein, es ist die Sechs."
,,Ach, nur ein Reflex!"
,,Dann ist es die Neun?"
,,Das würde mich freun!"
Im Wirrwar der Zahlen, haben sie den Salat.
Der Teufel denkt, er hat versagt,
doch ist er nicht verzagt.
Schnell mischt er seine Karten.
Es riecht nach Braten und Tomaten.
Ist man verdrossen oder beschlossen?
Gewiss, man hat sich entschlossen.
,,Werden sie bleiben oder fliehen?"
,,Zwei Wege, die sich selten zieh’n."
,,Die einen wurzeln, andre wehen –
doch beide lassen niemand stehen."
,,Will man sie jagen oder verjagen?"
,,Ein altes Spiel in neuen Tagen."
,,Sie laufen, doch wohin? Wovor?"
,,Ich spiele weiter – und steig' empor!"
,,Fünf und Fünf macht Zehn."
,,Sie werden Baden gehen,"
,,nur weit und breit kein See zu sehen."
,,Wasser kühl und klar,
so mags der Fisch,"
,,doch kommt der nicht auf meinen Tisch."
,,Ansich mag ichs gerne frisch.
Denn ruft der Wind, so bin ich da,
bringe Chaos Jahr für Jahr."
,,Es wird vergehen, bald verwehen,
und dann wirst du's verstehen."
Der Teufel tanzt am Feuer,
wirft Schatten wie ein Ungeheuer.
Über ihm kreisen die Geier –
jetzt beginnt die Riesenfeier.
Er würfelt im flackernden Licht,
sinniert dabei – fast wie ein Gedicht.
,,Sie machen sich Gedanken
und fangen an zu wanken,
denn offen sind die Schranken."
,,Jetzt machen sie sich Sorgen –
denn woher Hilfe borgen,
wenn niemand etwas kann besorgen?"
,,Vier, das klingt wie ein Stier,
doch der braucht Kraft."
,,Hier steht ein Wir und drüben Ihr",
,,das ist wie Honigsaft "
,,Da liegt was schwer im Agen,
und schlägt gewaltig auf den Magen."
,,Wollen sie kündigen?"
,,Werden sie sündigen?"
,,Sollen sie lügen?"
,,Vielleicht werden sie etwas rügen?"
,,Das ist mir einerlei –
klingts doch nur nach Blei und Brei."
,,Der Würfel kreist - die Antwort kommt,
wenn du sie weißt."
,,Sollen sie etwas sagen oder vielleicht fragen?"
,,Ein Schritt – und schon beginnt das Klagen."
,,Ein Wort – und alles bricht entzwei."
,,Doch Schweigen macht auch niemand frei."
,,Werden sie es wagen oder doch verzagen?"
,,Im Schatten selbst sich langsam nagen."
,,Die Zunge schwer, ihr Herz aus Eis –
so enden sie im eignen Kreis."
Die Turmuhr im Dorf läutete mit einem durchdringenden Klang, der bis zum Gipfel des Berges zu hören war, als stünden die Gnomlinge und Zwerge direkt davor. Plötzlich fanden sich die Zwerge und Gnomlinge in Hirschstrom wieder. Ihre Gesichter waren von Zorn gezeichnet, denn der Herrscher Valerian und seine Gemalin Umbra standen auf dem Marktplatz. Hier sollte nun über sie gerichtet werden. Viele Zwerge, Gnome und Wichtel standen dort mit erhobener Faust, bereit, ihre Empörung auszudrücken. Die Luft war erfüllt von Grummeln und empörten Rufen, während finstere Blicke wie herrschende Schatten auf das Paar niederfielen. Sie hatten das Dorf betrogen, gestohlen und nie einen Funken Reue gezeigt – jetzt forderten alle mit einer Stimme, die das Echo der Gerechtigkeit war, das Unvermeidliche.
Die Hexe trat vor. Ihre Augen waren schmal, ihr Gesicht spannte sich vor Gereiztheit. „Also, das sind sie,“ sagte sie kühl, „die beiden, die dachten, sie könnten uns hintergehen.“ Die Zwerge murrten und schnaubten zustimmend. „An die Ketten mit ihnen, sperrt sie in den Turm, bei ständigem Licht!“ riefen sie mit geballter Faust.
Ein sanfter Windhauch umwob die Menge, und ein Spruch lag schwer in der Luft, als ob er selbst aus den Tiefen der Zeit emporstiege:
Die Sonne und der Mond im Kampf entbrennen,
doch werdet Ihr, Mond, den Sieg nicht kennen!
Denn die Sonne wird Euch überstrahlen,
Eure Macht in Dunkelheit zermalmen!
„Ihr Giftzwerge!“, riefen Valarian und Umbra mit Spott. Nach allem, was wir getan haben, was für ein Lot! Wir lieben Euch doch alle, wie Mutter und Vater den Wurm, bei Sturm! Wir machen uns stark für Euch, sind stets auf der Hut. Ihr seid klein und schwach, doch wir haben den Mut! Nun ist keiner da, der Euch noch bewacht, niemand spielt mehr Schach, aber Ihr wisst genau, was wir können – haha, seid wach!“
Langsam zogen dunkle Wolken auf, der Himmel färbte sich in bunte Farben. Eine befremdliche Stimmung breitete sich über den Marktplatz aus. Weiße Tauben flatterten davon, um den heranfliegenden Krähen Platz zu machen. Diese ließen sich in den Bäumen nieder, krächzten und starrten wie Geier auf die Menge herab. Spielleute und Gaukler tauchten auf, begannen zu singen und ihre Zauberkünste vorzuführen. Auch sie waren Bewohner von Hirschstrom und wollten keinesfalls zulassen, dass die Stadt in Flammen aufging. Amüsiert von dem Schauspiel zwickten sich zwei Krähen zärtlich ins Gefieder. Andere Krähen beobachteten mit angriffslustigen Blicken das Geschehen, gespannt auf das, was da noch kommen mochte.
Valerian steht – die Würfel ruh’n in seiner Hand,
unbeirrt, die Faust geballt, schwingt er über das Land.
Er wedelt unbekümmert, das Spiel ist voller Schwang,
sein Blick entspannt, doch der Wurf, der dauert nicht lang.
Und auch Umbra, die Herrin, die niemals verzagt,
spuckt sorgenfrei wie eine Schlange, die niemand fragt.
Ihr Meisterwerk flackert, bewahrt die Macht in der Nacht,
sie wacht über das Feuer, das mit Beistand entfacht.
Doch auch die Zwerge, steh’n mitten in der Manege,
heute spielt der Zirkus rückwärts, wie eine Polonaise.
Uns wird ganz übel, sagen da die Herren,
und da kommt schon der Kübel mit faulen Eiern.
Wer soll das bloß verzerren, das Gelächter bescheren?
Obst und Gemüse fliegen, das Volk ruft in voller Müh,
nur Kühe brauchen sonst so viel Kraft,
Der Bär, er tanzt voll Lust und frei von Last,
denn ohne Ketten, da ist was los,
die Freiheit ruft, und das Leben fließt groß.
Der Spielmann leiert benebelt, mit Tönen so fein,
die Zwerge tanzen und singen im Gemein.
Die Schatten erwachen, sie leuchten im Schein.
Sie fliegen frei, als trüg sie stiller Schwur,
doch folgt ihr Flug der dunklen, stummen Spur.
Unantastbar wie Vagabunden zieh'n sie fort,
der Sonne entglitten, verborgen an einem Ort.
Die Welt mag sie richten – doch statt zu schlichten, bleibt ihr Geleit.
Die Zwerge sind erwacht. Sie hüten die Wahrheit – seit Anbeginn der Zeit.
Das Schauspiel war kein bunter Zirkus voller Attraktionen, sondern glich einem düsteren Sommernachtstheater. Die Menge unter den Anwesenden war aufgebracht. Einige Zwerge verließen den Marktplatz, drangen in die einstigen Mauern von Valerian und Umbra ein, zerstörten sie, sammelten Schriften ein und ließen sie über den Marktplatz fliegen.
Die einstige stolze und mächtige Reiterschaft von Valerian und Umbra stand nun machtlos da und wusste nicht, was sie unternehmen sollte, ohne Herrscher und Herrin. Sollten sie es wagen, anzugreifen? Was würde passieren, wenn sie angriffen? Würde Hirschtrom in Schutt und Asche gelegt werden? Wer würde gewinnen? Oder sollten sie sich auf die Seite der Zwerge stellen? Letztendlich standen auch sie unter einem Bann. Jetzt war Hirschtrom frei, aber für kurze Zeit standen Tür und Tor weit geöffnet. Wer regierte nun – die Zwerge oder die Reiterschaft? Niemand wusste es so genau. Es war ein Chaos, das einem Wirbelsturm glich.
Die Hexe hob die Hand, um die Versammelnden zu beruhigen. Langsam legte sich eine unruhige Stille über den Platz. „Wollt ihr wirklich Ketten an solche Heuchler legen und sie bei Licht in den Turm einsperren?“ Die Zwerge riefen mit grimmiger Miene: „Ja, natürlich! Sie sollen für ihre Taten bezahlen!“ Doch bevor die Hexe antworten konnte, geschah das Unerwartete: Valerian und Umbra verschwanden plötzlich, als wären sie vom Erdboden verschluckt worden. Ein Raunen ging durch die Menge, als ein Magier vortrat. Er hieß Blandior. Seine Statur und sein Gesicht glichen einem Schatten, denn er war nur ein Schatten seiner selbst, er war da und doch nicht da. Er trug einen Umhang, seine Hände glichen Flügeln und seine Ohren waren spitz.
„Nun, sie sind weg“, verkündete er mit einem schelmischen Lächeln und klatschenden Händen, was wie erleichterter oder heiterer Beifall wirkte.
„Was soll das?“, riefen die Zwerge, die Hand an der Axt, bereit zum Angriff. „Wohin habt ihr sie gebracht?“ Blandior hob beschwichtigend die Hände. „Bitte, bleibt ruhig“, sagte er in sanftem Ton. „Ich verstehe Euren Unmut, aber glaubt mir – ihre Flucht ist keine Erlösung. Wollen wir wohlwollend…“ Die Hexe unterbrach Blandior mit einem finsteren Blick.
Blandior wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er seufzte und überlegte, hielt jedoch sein Lächeln aufrecht. Aus seinem Beutel zog er einen Würfel – oder vielmehr einen hölzernen Block mit nur einer einzigen Seite. In kunstvoller Schrift prangte darauf die Zahl fünf. Doch die Zwerge sahen nicht alle Seiten des Würfels. Feierlich hielt Blandior ihn hoch, seine Hände so gelegt, dass man meinte, mehrere Zahlen zu erkennen.
„Sie sind weg. Ich kann nichts mehr tun – aber schaut doch mal, was ich kann!“, rief Blandior. „Dieses Spiel stammt von Zauber & Staub, die in den windigen Bergen wohnen – übrigens ein fantastischer Ort irgendwo bei Nirgendwo, den ich nur empfehlen kann. Es ist zwar etwas windig und kalt, und... und über das Klima müsste man eigentlich auch mal sprechen, d-darum sind wir ja hier – ach nein, a-aber naja, es gibt ja warme Kleidung. Also das ist, hehe, äh…“
„Ist das eine Rede oder ein Scherz?“, fragte ein Zwerg. Ein anderer rief: „Hammers bald?“ Ein dritter, der offenbar verschlafen hatte, tauchte im Schlafrock auf, gähnte, kratzte sich am Bart und fragte: „Ist heute Markt?“ Ein kurzes Lachen erfüllte den Marktplatz – und verstummte dann wieder.
Das Gesicht von Blandior rötete sich. „So, meine Freunde…“, sagte er und warf den Würfel mit Schwung auf den Boden. „Fünf!“ rief er, als er die einzige Seite las. Dann hob er ihn erneut auf und warf noch einmal. „Und noch mal… fünf! Erstaunlich, nicht wahr? Fünf! Das ist… ein Zeichen von… Beständigkeit. Treue. Oder Schicksal!“ Er fuhr sich mit zitternden Fingern durch die Haare. „Manchmal… äh, fällt er auch auf die Kante. Dann zählt das doppelt.“ Er versuchte es – der Würfel kippte sofort wieder auf die Fünf.
„Gut. Ihr versteht das Spiel vielleicht nicht gleich…“, murmelte er. „Aber glaubt mir – das hier ist hohe Kunst.“ Verzweifelt bemühte er sich, mit vielen Worten etwas zu sagen, worauf er selbst keine Antwort fand. Die Zwerge schauten ihn wortlos an.
Blandior schluckte laut, nickte sich selbst zu – und plötzlich rief er: „Aber wartet mal!“ Er zog ein Buch hervor, blätterte wild und umständlich darin, fixierte eine Seite und begann zu murmeln: „Hm… ja… hier steht: Ja, was steht denn da?“ Er runzelte die Stirn. „Heute ist… äh, ich meine… Ihr werdet überrascht sein.“ Selbstbewusst nickte er und drehte das Buch zu den Zwergen. Es war durchaus ein aufregendes Buch, denn die Seiten waren leer.
Einige Zwerge jubelten. Sie schienen sich nicht entscheiden zu können, auf welcher Seite sie stehen wollten. Die Hexe spürte ein wachsendes Unbehagen. Sie beobachtete die Zwerge genau, um ihr Verhalten abzuschätzen. Was würde jetzt geschehen? Würden sie den Untergang von Hirschstrom heraufbeschwören und alles niederbrennen?
Ein unheimliches Dröhnen von Hörnern und Trommeln erklang, als würde gleich noch viel mehr passieren. Denn in der Zwischenzeit hatten sich Zwerge, Wichtel und Gnome verbündet. Sie zogen die Augenbrauen hoch und warfen sich sowie Blandior gefasste Blicke zu.
„Natürlich ist es für Uneingeweihte unsichtbar. Ganz normale magische Tinte, klar“, sagte Blandior hastig. Unbeirrt blätterte er weiter im Buch, hob es hoch und hielt es gegen die Sonne, als würde das helfen. Offenbar hatte er selbst keine Ahnung, wie der Trick funktionierte. Aber das spielte ohnehin keine Rolle mehr. Wahrscheinlich hätte er nicht einmal gewusst, was überhaupt in dem Buch stehen sollte.
Das Zwergenvolk brummelte. „Wir können sie ihnen nicht überlassen. Schaut, wie finster und aufgebracht sie sind“, flüsterte Blandior der Hexe zu. Hinter ihm standen seine Gefolgsleute, doch anstatt ihn zu unterstützen, berieten sie bereits über die Zukunft von Hirschstrom. Von Zeit zu Zeit zeigten sie mit ihren Köpfen auf Blandior und nickten dabei. Denn auch Blandior war nur noch eine Marionette. Es hieß, alles werde sich wenden. Das Vertraute wird fremd, und das Fremde wird vertraut.
Es wurde Abend, da rief ein Uhu und die Turmuhr läutete das Ende herbei. Blandior löste sich in einer schwarzen Rauchwolke auf. Da standen sie nun, die Hexe und das Zwergenvolk. Die Zwerge murrten laut und rückten nur widerwillig auseinander. Misstrauische Blicke hefteten sich auf die Stelle, an der Blandior gestanden hatte. Ein letztes Gelächter von Valerian und Umbra hallte durch die Luft und der Marktplatz verdunkelte sich. Beschämt senkte die Hexe den Blick; ihre Ohnmacht war unübersehbar.
Es war still auf dem Markt. Doch dann erhob sich eine Kapelle. Jetzt passierte etwas, woran niemand mit gerechnet hatte.
„Kommt zu mir, ich werde einen Zauber finden, der Euch Frieden schenkt“, sprach die Hexe. Die Hexe lud die Zwerge zur alten Kapelle ein. Das Zwergenvolk wurde wie von Zauberhand angezogen.
Vor der Kapelle, wo alte Mächte in der Dunkelheit verborgen lagen, stand Tenebralux, ein Rivale der Hexe. Tenebralux war ein Troll oder vielmehr ein rundliches Monster – zwar samtig weich und flauschig, doch übersät mit Hörnern. Zum Einschlafen war er weniger geeignet – und auch zum Kuscheln möglicherweise eher ungeeignet. Er rollte und hüpfte wie Wolle oder ein Ball. Tenebralux schmiedete große Pläne und böse Taten, doch sie endeten stets im Guten, da die Hexe seine finsteren Vorhaben durchkreuzte. Heute wirkte Tenebralux unentschlossen, wie ein Torwächter, der nicht wusste, welche Macht er nun schützen oder freigeben sollte. Die Nacht schien voller Unsicherheit. Der Mond erschien in bunten Farben: mal weiß, mal gelb oder mal rötlich und um ihn herum schien der Sonnenschein.
Tenebralux sprach: „Ah, wer kommt denn da? Die gute alte Hexe! Na, hat der Hammer für Euch noch nicht geschlagen?“ Er lächelte leise. Mit überdrehter Fröhlichkeit fuhr er fort: „Ah, und wen sehe ich da? Ein paar Zwerge!” Mit einer Mischung aus Fröhlichkeit und Mitleid ergänzte er: „Und, nein, seht sie Euch an, wie grimmig sie schauen! Ist etwas passiert?“
„Lasst uns durch, Tenebralux. Wir wollen zur Kapelle und haben mit Euch nichts zu tun“, antwortete die Hexe in ruhigem Ton.
„Ja, eine seltsame Nacht ist es, nicht wahr? Und Ihr wollt zur Kapelle, nein himmlisch, was für ein Schauspiel“, antwortete Tenebralux mit einem finsteren Lachen. Doch gleichzeitig verwirrt sprach er: „Durchlassen? Heute? Ich weiß nicht, ob das möglich ist.“ Er klang nicht wie der selbstsichere Magier, der er sonst war, sondern wie jemand, der auf widersprüchliche Anweisungen wartete. „Die Nacht ist unruhig, und die Kräfte… die Kräfte sind durcheinander. Ich habe noch keine klaren Befehle erhalten.“
Die Zwerge sahen sich an, grimmig sprachen sie: „Wir haben keine Zeit für Eure Spielchen. Warum zögert Ihr?“ Als ob der Druck der Situation ihn überwältigte, trat Tenebralux einen Schritt zurück. „Es ist nicht meine Entscheidung allein. Die Mächte jenseits der Kapelle… sie sind stärker als ich, als Ihr alle. Ich weiß nicht, was geschehen wird, wenn ich Euch durchlasse.“
„Ihr wisst sehr wohl, was geschehen wird“, entgegnete die Hexe ruhig. „Die Balance wird gewahrt. Ihr seid nicht gefragt.“ Mit unsicherem Blick starrte Tenebralux in die Nacht. Die Dunkelheit um ihn herum schien ihn zu umklammern, als wäre er hin- und hergerissen zwischen den Befehlen, die er zu spüren glaubte, und dem drohenden Chaos. „Wenn ich Euch durchlasse...“, begann er, „dann ist es mein Verlust. Aber wenn ich es nicht tue… es könnte alles zusammenbrechen.“
Die Hexe trat näher an Tenebralux heran, ihre Augen suchten die seinen. „Ihr habt die Kontrolle verloren. Das Dunkel hat Euch verwirrt. Lasst uns durch, und die Mächte werden wieder im Gleichgewicht sein.“
Da hob er widerstrebend die Hand und ließ die Hexe passieren. „Geht“, sagte er leise, „bevor ich es mir anders überlege. Diese Nacht entgleitet mir… wie so vieles.“
Die Zwerge blickten auf die Kapelle, während sie sprachen:
„Er ist dunkel.“
„Ja“, sagte die Hexe, „der Himmel scheint bewölkt zu sein.“
„Nein, wir meinen Tenebralux!“
„Ach, Ihr meint ihn? Ja, er trägt nur dunkle Kleidung.“
Die Zwerge schüttelten den Kopf. „Wir meinen seine Art.“
Doch die Hexe lachte und sagte: „Ach, Tenebralux ist ein kleiner Rivale…“ Mit einem nachdenklichen Blick fügte sie hinzu: „Aber unter all dem Dunkel gibt es immer ein Licht.“
Die Hexe betrat die kalte, steinerne Halle der alten Kapelle, wo die Kerzen flackerten, als würden sie ihren Atem spüren. Ihre Finger, die sonst in den Nebeln des Waldes die uralten Kräuter mischten, glitten nun sanft über das glatte Holz der Bänke. Sie war eine Hexe des Waldes und außer den Gnomen, Zwergen und Wichteln teilte niemand denselben Glauben. In Märchen und Legenden wurde nur davon gesprochen. Doch in Hirschstrom war alles anders. Die Kapelle war mit Reliefs und Verzierungen geschmückt, die Brauchtum und sagenhafte Elemente zeigten. Darunter hingen Masken von Hexen, Teufeln und Trollen. Überall standen Kerzenhalter, ebenso Ritterfiguren, die jeweils eine Kerze hielten. An einzelnen Stellen standen seltsame Wesen, manche mit Fell, andere wirkten wie Gerippe. Ihre Erscheinung verbarg sich unter verhüllten in Kapuzengewändern. Sie verharrten wie stumme Zeugen, und doch schienen sie sich zu bewegen.
Alle wussten um die Macht der alten Symbole, um die stille Stärke, die hier ruhte. Einst, lange vor der Zeit des neuen Glaubens, hatten ihre Ahnen und die Wächter der Hallen ein Bündnis geschlossen. Heute würde sie das Gleichgewicht wiederherstellen. Die Hexe, deren Name in den Legenden von Hirschstrom wegen ihrer Macht und ihrer gefürchteten Taten widerhallte, kniete vor dem Altar. Sie sprach keine Gebete, aber ihre Lippen formten uralte Worte. Hier, im Verborgenen, erneuerte sie einen Pakt, der älter war als das Dorf, das zu ihren Füßen schlief – ein Pakt, der Schutz vor Gefahren versprach und den Erfolg von Hirschstrom sichern sollte. Es war ein Bündnis, das nicht nur das Land verteidigen, sondern auch verlorene Gebiete zurückgewinnen sollte.
In diesen fernen Tagen leben die Zwerge nicht mehr in Hirschstrom. Längst haben sie eigene Familien gegründet und führen anderswo ein glückliches Leben in Freiheit. Zwar ist Hirschstrom heute ein verlassener Ort, aber es gibt keine Ruinen. Vielmehr sind es die Geister des Erbes, die durch die Gemäuer tanzen, sowie die Hüter der Geschichte.
Es wird erzählt, dass Valerian und Umbra später an verschiedenen Orten gesehen wurden. Sie nahmen die Gestalt von Zwergen an und brachen Tabus, die sie einst unter Strafe stellten. Ihre Taten haben sie niemals bereut. Sie waren ein fragliches Vorbild, sie widersetzten sich ihren eigenen Regeln und Werten und behaupteten sogar, die Zwerge hätten ihr eigenes Schicksal herbeigeschworen. Hätten sie sich nur an die Gesetze gehalten, wäre ihnen das Unheil erspart geblieben.
So endet eine Geschichte mit einem lachenden und einem weinenden Auge, die bis heute erzählt wird und dem Fest der Freiheit Tribut zollt.
Auch heute spinnen Trolle ihr Netz.
Die Täuschung so alt, das Reden kein Gesetz.
Faseln von guten Zeiten – nur ein Wermutstropfen.
Doch Zwerge erwachen, durchschauen den Schein,
bleiben wachsam, stets auf der Lauer.
Ihr Mut ist ein Schild, ihre Kraft eine Dauer.
Wenn ein Troll die Wölfe weckt, die sonst nie heulen,
schreiten voran die Zwerge – im Bund mit Keulen.
Doch auch Krähen sind schon nah und rufen: "Krah!",
mit ihnen schwingt der Wind – so kalt und rar.
Die Trolle spüren, wie ein Sturm sich erhebt,
erinnern an den Aufstand, der alles verweht.
Sie wissen, wie aus Funken der Zorn entflammt –
so lodert der Zwergengroll, in der Nacht verkannt.
Die Zwerge kehren jährlich nach Hirschstrom ein,
feiern mit Hexen und Teufeln im Schein.
Die Zwerge singen mit voller Brust –
in der Dunkelheit glänzt ihr Mut wie die Lust.
Die Nacht wird zum Tag, wenn das Feuer entfacht,
im Schatten der Berge wird Freundschaft bewacht.
Mit Lichtern, die flackern, und Herzen, die schlagen,
zeigen sie Stärke, wenn die Trolle sich wagen.
Jetzt fragst du dich vielleicht, was mit den Gnomlingen passiert ist, ob sie ihre Familien wiedergefunden haben und ob sie gemerkt haben, dass sie Geschwister sind. Nun, im Dorf erzählten die einen dies und die anderen das. Aber es gab sicher auch fröhliche Momente. Und was ist aus Hexaris geworden? Vielleicht ist er in die eine oder andere Rolle geschlüpft, oder auch in solche, die du nicht vermutet hättest.
Luzias sitzt immer noch auf der Bank, hinter ihm nähert sich Drevil leise. Er faucht ihn in den Nacken. Luzias spürt einen Windzug. Scheinbar wirkt Drevil aufgebracht. Er stellt sich vor Luzias hin, stampft mit seinem Fuß auf den Boden, sodass das Erdreich sanft aufbricht. „Jetzt mal ehrlich, Luzias. Warum endet die Geschichte so? Ist sie überhaupt wahr?“
Luzias schweigt und zuckt mit den Schultern. „Oft schwankt man zwischen Sorge und Entschlossenheit, fühlt sich hin- und hergerissen zwischen Handeln und Zögern.“
„Du meinst, dass das Schweigen eine Art Gefangenschaft ist, die Veränderungen verhindert?“ Drevil steht mit verschränkten Armen da und klopft ungeduldig mit seinem Drachenschwanz auf den Boden. Ein paar Steine lösen sich von der Felswand und rollen hinunter ins Tal. Dort, wo der Fluss fließt, liegen sie noch immer.
Luzias schaut die Steine an. „Mhm, naja, du kannst die Felsen mit Netzen befestigen, aber wenn der Stein rollt, dann rollt er. Es ist wie das Wasser, das sich seinen Weg sucht. Das Schicksal kann unberechenbar sein und von Zufällen abhängen.“
Drevil wird ruhiger und schaut nachdenklicher. „Dann spielt diese Geschichte mit dem Gedanken, über Entscheidungen, Konsequenzen und das Wesen der Freiheit nachzudenken?“
„Genau. Es ist eine Reflexion über das Leben, die Entscheidungen, die getroffen werden, und die unvorhersehbaren Wendungen, die das Schicksal nehmen kann,“ erwidert Luzias.
Jetzt lenkt Drevil ein. Doch etwas stört ihn noch. Er beugt sich zu Luzias vor und zeigt dabei auf seine scharfen Zähne. „Woher kommt diese Stimme? Es sind Milchzähne!“
„Und warum hat der Teufel mal wieder nur den Bösewicht gespielt, während die Hexe die gute Fee ist? Mein Freund, ich habe Beweise. Sie stehen alle hier in diesem Buch.“
Luzias bekommt rote Augen und faucht, als würde er sich zur Gegenwehr bereitmachen. Dann schaut er unbekümmert, blättert die Seiten durch und sagt: „Es ist ein Märchenbuch; übrigens fehlen hier Seiten und da ist auch etwas geschwärzt.“
„Beim Barte des Teufels! Es ist schon ein altes Buch - nicht mehr zeitgemäß, und ich wollte verschwommene Buchstaben deutlicher machen, aber das hat wohl nicht funktioniert, naja“, sagt Drevil. Er wirkt verlegen, doch lächelt er dabei verschmitzt. Dann scharrt er leise mit seinen Hinterläufen über den Boden.
„Mhm, wie’s immer sich verhalte, so sei der Mantel des Vergessens. Sei’s vergeben, und genug des Worts!“ schwafelt Luzias und winkt dabei ab. Dann erhebt er seine Hand. „Die Hexe in meiner Geschichte hat nun einmal eine andere Rolle.“ Er zuckt mit den Schultern und spricht wortkarg: „Das ist kulturbedingt; das musst du historisch betrachten.“
,,Historisch?“ Drevil schneidet Grimassen, er wirkt beleidigt und dreht sich um. Luzias lacht. Drevil neigt seinen Kopf etwas zur Seite und achtet darauf, was Luzias antwortet. „Nun, mein Freund“, spricht Luzias, „der Teufel in dieser Geschichte ist der Schelm, der neckt. Vielleicht war der Teufel als Schelm am Ende ein Trainer, ein Motivator für die Zwerge; sonst wären sie vermutlich nicht weit gekommen. Damit übernimmst du praktisch die Rolle eines Antihelden, den niemand will, wahrnimmt oder übersieht."
„Und die Hexe, naja“, kaut Luzias gerade auf einem dünnen Stock herum, „sie hat zwar vieles bewirkt, aber am Ende nicht alles geschafft. Genau das meine ich mit der Kultur oder dem Erbe der Hexen: Das Magische, also die Vorstellung, alles beschwören, verfluchen oder verwandeln zu können. In Verbindung mit Aberglauben und Irrsinn hat man so Schuldige gefunden.
Luzias nimmt den Stock aus dem Mund, und muss aufstoßen. Vermutlich hat er etwas verschluckt. Hat es gelebt? Drevil überlegt.
Nun dreht sich Drevil wieder um. „Lange habe ich die Lüfte durchzogen, Feuer gespuckt und die Berge beherrscht. Meine Hörner ragten in den Himmel, als Zeichen meiner Stärke und Wildheit. Doch in mir wächst eine Sehnsucht nach Ruhe, nach einem Weg, der nicht nur von Flammen und Zerstörung geprägt ist. Nun stehe ich fest auf der Erde, mein Atem ist ruhig, mein Blick klar. Die Hörner trage ich noch immer, doch sie haben eine neue Bedeutung. Statt Macht durch Zerstörung symbolisieren sie jetzt den Wandel der Zeit. Meine Flügel tragen jetzt einige meiner Nachfahren, doch ich werde nun auf der Erde wandeln und den Boden unter meinen Hufen spüren.“
Und was wirst du jetzt tun?" fragt Luzias, der von Drevils Worten berührt ist.
„Ich werde lernen. Wo einst Feuer tobte, werde ich das Land erkunden, die Zwerge verstehen, und vielleicht, wenn die Zeit es verlangt, zu meiner alten Form zurückfinden. Doch jetzt ist es an der Zeit, mit festem Huf die Erde zu betreten und zu spüren, wie sie unter mir lebt.“
Langsam beginnt Drevil, seine Form zu verändern. Die Schuppen verschwinden, die mächtigen Flügel lösen sich auf. Aus seiner kräftigen Gestalt wird ein stattliches Pferd mit Hörnern, oder ist es ein Bock? Das sieht man nicht so genau, denn Nebel zieht auf.
Luzias und Drevil gehen fort. „Wer hat sich das Spiel ‚Riesen Spiel für Zwerge‘ eigentlich ausgedacht? Ist das überhaupt möglich?“, fragt Drevil Luzias, doch dieser schweigt. Dann nimmt Luzias eine Kugel und balanciert sie auf seinen Händen und Armen. Drevil ist erstaunt. Luzias spricht: „Vielleicht gab es das Spiel so gar nicht, sondern es hatte einen anderen Sinn.“
Mal ganz ehrlich: Eigentlich ist die Kugel, die wie eine Murmel aussieht, bloß eine Stoffkugel.
Aus dem Hintergrund tauchen zwei Pferde der Riesen auf. „Halt, Steh oder war es Brrr?“ Es scheint nicht zu wirken; sie traben weiter. Nun, sie sehen aus wie die der Riesen, nur jetzt kleiner, wie Esel oder Ponys, aber immer noch mit markanten Zeichen der Riesenpferde. Sie stehen allein auf dem Marktplatz und unterhalten sich. Ein Pferd heißt Waldi, das andere Siegferd.
„Hast du dich bei den ‚Riesen Spielen für Zwerge‘ schon mal gefragt, warum die Häuser der Zwerge beim Spiel immer so leicht einstürzten, während die der Riesen nahezu unversehrt blieben?“, fragt Waldi Siegferd.
Siegferd blickt über den Markt und hinab ins Tal. „Weil die Riesen immer so viel größer waren!“, sagt Siegferd, während er die Reste auf dem Markt aufsammelt und frisst.
„Nicht nur das“, entgegnet Waldi, der ebenfalls nach Brauchbarem auf dem Markt Ausschau hält. „Es lag an den Materialien. Die Riesenhäuser waren nicht aus gewöhnlichem Kalkstein. Sie bestanden aus Granit und Schiefer – unheimlich stabil. Wenn du das Spiel mit solchen Materialien spielst, dann hält alles stand.“
„Aber die Zwergenhäuser?“, fragt Siegferd.
„Die waren aus Sand. Sie sahen nur von außen aus wie Kalk und waren dadurch zerbrechlich“, erwidert Waldi.
„Das ist also der Grund, warum die Zwerge immer den Kürzeren zogen – weil sie keine Granit- und Schieferhäuser hatten.“
Siegferd steht in stolzer Pose da, mit kratzenden Hufen am Gesicht. „Ja, das könnte man so sagen. Aber die wahre Frage ist: Wer braucht schon ein Haus aus Granit und Schiefer, wenn es nur der Größe und Macht der Riesen bedarf, um etwas zu zerstören?“
„Wo sind eigentlich die Riesen geblieben?“, fragt Waldi.
Doch Siegferd schaut hinauf zum Himmel und schweigt. Dort fliegen einige Hexen, voller Freude und mit lautem Kichern. Auch der Teufel schaut am Marktrand um die Ecke. Er beobachtet die Pferde, während er einige Zettel in der Hand hält. Dann verwandelt er sie in Baumblätter und pustet sie über den Platz, als würde ein Windstoß über den Marktplatz fegen.
Rieserolltal lebt weiter, doch der Fortschritt nimmt nun andere Wege. Siehst du dich in der Gegend um, entdeckst du vielleicht Abdrücke – groß wie Dümpel und bunt wie schillernde Seen.
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